Sie haben mit dazu beigetragen, dass Paris nach der Jahrhundertwende zur Weltstadt der künstlerischen Moderne wurde: die jüdischen Künstler, die von überall her – vor allem aus Osteuropa – vor Pogromen und Unterdrückungen in ihren Ländern flüchteten oder zur künstlerischen Weiterbildung nach Paris kamen und hier neue Anregungen und Gemeinschaften suchten und fanden. Sie haben entscheidenden Anteil an der künstlerischen Entfaltung der École de Paris in den 1920er Jahren, jener multinationalen Generation von Künstlern, die in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts die Pariser Kunstszene bereicherte und zu der Künstler wie Picasso, Amadeo Modigliani, Joan Mirò, Chaim Soutine, Max Ernst und Marc Chagall gerechnet werden. Die jüdischen Künstler waren dann aber auch die ersten, die Opfer der Schoa wurden, die in den Untergrund oder abermals ins Exil gehen mussten oder den Tod fanden.
Erstmals im deutschsprachigen Raum stellt jetzt das Jüdische Museum in Berlin die jüdischen Künstler der École de Paris vor, mehr als 120 Arbeiten von 40 jüdischen Künstlern, neben so bekannten wie Sonia Delaunay, Chaim Soutine, Chagall, Modigliani, Jacques Lipchitz oder Ossip Zadkine auch eine große Zahl unbekannter, die es unbedingt wert sind, wieder ins öffentliche Bewusstsein gehoben zu werden. Es handelt sich weitgehend um die Übernahme eines großangelegten Ausstellungsprojektes, das 2021 im Pariser Musée d’art et d’histoire du Judaisme gezeigt wurde.
Natürlich erzielten vor allem die noch lebenden alten Meister wie Monet – in seinen letzten Jahren in Giverny –, aber auch Picasso, Braque, Léger, Matisse die Erfolge der französischen Kunst zwischen 1920 und 1930. Aber die jüdischen Künstler brachten – ihrer Herkunft, ihrem Schicksal geschuldet – eine Welt der Geheimnisse, der Melancholie, psychischen Betroffenheit und eine Neudefinition ihrer jüdischen Identität in die französische Malerei ein. Sie waren vom Kubismus beeinflusst, mit seinem schnellen Wechsel von Standpunkten, dem Spiel zwischen Undurchsichtig und Durchsichtig, dem seltsamen Spannungsverhältnis zwischen Zeichen, Buchstaben und Zahlen einerseits und einer extremen malerischen Vieldeutigkeit andererseits. Aber nicht von ungefähr war dann der Surrealismus die von vielen gewählte Stilrichtung, die seltsame, unerwartete Zusammenstellung von Gegenständen und die Klarheit, die den Traum zur Wirklichkeit machte. Man weiß nicht, so sagt die von ihnen bevorzugte Collagetechnik aus, was in der großen Welt geschieht, in die ihre Bilder mit einbezogen sind.
Der Maler-Poet Marc Chagall war noch in seiner Heimatstadt Witebsk in Weißrußland der bittersüßen tragikomischen Welt der jiddischen Folklore verbunden. Doch dann – seit 1910 in Paris – ließ er sich von den neuen Ideen der westlichen Avantgarde anregen. Da gab es die Vorstellung von der Simultaneität, der Gleichzeitigkeit, die verschiedene Gegenstände und Ereignisse auf einem einzigen Bild zusammenbringt, wie das innere Auge eine Vielzahl verschiedener Erfahrungen gleichzeitig aufnehmen kann. Chagall hatte die überwältigende Flut von Kindheitserinnerungen aus seiner Heimat in den Westen mitgebracht. Er erzählte zugleich die Geschichte der chassidischen Juden und verwob jüdische Sprichwörter und Redewendungen in das Bildgefüge, ironisierte religiöse Rituale oder fügte hebräische Buchstaben spielerisch ein. Die Selbstverständlichkeit, mit der Chagall den Traum, das Märchen, die Phantasie als Bildgegenstand zuließ, hat in der modernen Malerei neue Türen geöffnet. Das Dahinterliegende ist Sediment eines jüdischen Lebens auf der Wanderschaft zwischen den Kulturen, den Ländern, den politischen Debatten.
Sonia Terk – sie heiratete 1910 Robert Delaunay und arbeitete seitdem mit ihm zusammen – lebte schon seit 1903 in Paris und schuf abstrakte Bilder, basierend auf Farbrelationen, die hauptsächlich aus farbigen Streifen, Kreisen oder Spiralnebeln bestehen („Elektrische Prismen, Nr. 41“, 1913-1914). Mit ihrem Mann war sie eine der Wegbereiterinnen der abstrakten Malerei, besonders der geometrischen Abstraktion. Beide entwickelten den sogenannten Orphismus, bei dem die Simultankontraste der Farben im Vordergrund stehen. Ziel des Orphismus, einer Weiterentwicklung des Kubismus, war es, der reinen Musik eine reine Malerei entgegenzusetzen. Ihre starken, lebhaften Farben auch in ihren Portraits („Philomène“, 1917) standen im Gegensatz zur eher monochromen Malerei eines Picasso oder Braque.
Auch Louis Marcussis kam schon 1903 aus Polen nach Paris, musste dann 1940 vor den deutschen Truppen nach Südfrankreich fliehen, wo er ein Jahr später starb. 1910 hatte er Apollinaire, Braque und Picasso kennengelernt und sich der Gruppe der Kubisten angeschlossen. Mit kühlem analytischem Verstand malte er in „Stillleben mit Schachbrett“ (1912) Gebrauchsgegenstände auf seinem aufgerichteten Ateliertisch. Die Übergänge von Undurchsichtig zu Durchsichtig in sich überschneidenden Flächen, in die auch die den Raum füllenden Rückwärtsseiten der Gemälde eingebunden sind, sollen dem Ganzen eine abgewogene Poesie verleihen. Sein Landsmann Moise Kisling, seit 1910 in Paris, war ein Meister der Darstellung des weiblichen Körpers. Seine „Frau mit polnischem Schal“ (1928) ist mit Detailgenauigkeit gemalt, ihr melancholische Blick nach innen gerichtet. Das Porträt scheint sowohl intim nah an den Betrachter herangerückt als auch distanziert und geheimnisvoll.
Amadeo Modigliani – man hat ihn auch als den „letzten echten Bohemien“ bezeichnet – übersiedelte 1909 auf den Montparnasse, das Pariser Viertel, das nun neben dem Montmartre große Anziehungskraft auf Künstler ausübte. Constantin Brancusi regte ihn zu bildhauerischer Tätigkeit an und wies ihn auf die afrikanische Plastik hin, deren Einfluss auch auf seinen Malstil unverkennbar ist. Ab 1914/15 entstanden zahlreiche Porträts seiner Künstlerfreunde sowie Frauenbildnisse in dem für ihn so typischen Stil mit seinen vereinfachten Umrisslinien und überlängten Köpfen und Körpern. „Seine Zeichnung war eine lautlose Konversation, ein Dialog zwischen seiner Linie und der unsrigen“, so sein Künstlerfreund Jean Cocteau.
Chaim Soutine, seit 1913 in Paris, malte Porträts, Stillleben und Landschaften im expressionistischen Stil. Ein Bild expressiver Gewalttätigkeit ist „Der gehäutete Oche“ (1925) – die Farbe des Ochsen hat schon eine eigene fette Fleischlichkeit angenommen. Gerade seine Céret-Bilder, die er zwischen 1919 und 1922 in den französischen Pyrenäen mit einem farblichen Allegro furioso und einer eigentümlichen Luftleere malte, hatten wesentlichen Einfluss auf andere Maler, wie Willem De Kooning.
Den jüdischen Künstlern gelang es, eine Synthese aus der illusionistischen surrealistischen Malerei und der scheinbaren Festigkeit des surrealistischen Objektes herzustellen. So schuf Jacques Lipchitz – er emigrierte 1909 nach Paris – kubistische Skulpturen („Matrose mit Guitarre“, 1914/15) und unternahm Experimente mit farbigen Reliefs. 1925 entstanden seine „transparenten Skulpturen“ mit Löchern und Hohlräumen. Serienarbeiten mythologischer und biblischer Themen folgten, so 1936 „Prometheus streckt den Geier nieder“ – offensichtlich, wer hier als Geier gemeint war. Sein Bildhauerkollege Ossip Zadkine, auch seit 1909 in Paris, experimentierte mit der Oberfläche, arbeitete mit verschiedenen Materialien und trug Farbe und Zeichnungen auf die Oberfläche seiner Skulpturen auf. Beide übersiedelten 1941 in die USA.
Es wird auch Otto Freundlichs, dieses so innovativen Künstlers und europäischen Pioniers der ungegenständlichen Kunst, gedacht. Sein visionärer Geist und sein tragisches Schicksal lassen niemand unberührt. In seiner Malerei kommen Transparenz und gleißendes Licht zusammen. Die Kreise, Schwingungen und Strahlen spiegeln seine Vorstellung einer kosmischen, im Zusammenklang der Farben darstellbaren Ordnung. 1940 floh der Jude Freundlich in ein Dorf östlich der Pyrenäen, wurde drei Jahre später auf Grund einer Denunziation verhaftet, ins KZ Lublin-Maidanek gebracht und starb noch am Tage seiner Ankunft in der Gaskammer.
„Den ermordeten Künstlern“ (1950) hat Chagall die Worte nachgerufen: „Sie rufen mich, sie ziehen mich in ihre Grube – mich, den Unschuldigen, den Schuldigen. Sie fragen mich: Wo bist Du gewesen? – Ich bin entflohen… Sie hat man zu den Todes-Duschen geführt, wo sie ihren Schweiß schmeckten. Da sahen sie das Licht ihrer ungemalten Bilder…“.
Paris Magnétique 1905 – 1940, Jüdisches Museum Berlin, Lindenstr. 9-14, 10969 Berlin, bis 1. Mai 2023; Katalog 28,00 Euro.
Schlagwörter: École de Paris, Jüdisches Museum Berlin, Klaus Hammer, Marc Chagall, Paris Magnétique