26. Jahrgang | Nummer 3 | 30. Januar 2023

Erich Kästners Erinnerungen an Dresden

von Manfred Orlick

Jubiläen werfen manchmal lange Schatten voraus. So in diesem Jahr. Obwohl erst 2024 der 300. Geburtstag des Philosophen Immanuel Kant (22. April) und der 125. Geburtstag des Schriftstellers Erich Kästner (23. Februar) sind, gab das Bundesministerium der Finanzen jetzt schon bekannt, zu diesen Jubiläen jeweils eine 20-Euro-Silbermünze herauszugeben. Ihre Werke seien wesentlicher Bestandteil des geisteswissenschaftlichen Erbes unseres Landes.

Auch verschiedene Verlage nehmen diese Jubiläen bereits ins Visier. So startete der Züricher Atrium Verlag schon im August 2022 eine dreibändige Reihe „Erich Kästner und seine Stadt“ zu seinen wichtigsten Wirkungsstätten: Dresden, Berlin und München. Den Auftakt machte natürlich Kästners Geburtsstadt, wo er seine ersten zwanzig Lebensjahre verbrachte, und die er erst im Herbst 1919 verließ, als er in Leipzig sein Studium begann. Doch in seine Heimatstadt kehrte immer wieder besuchsweise zurück und bewahrte die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend stets in seinem Herzen. Die Neuerscheinung „Vom Glück, in Dresden aufzuwachsen“ versammelt Gedichte und Texte des Autors, die Dresden aus seinem Blickwinkel zeigen und dabei ein wunderbar plastisches Bild der Stadt an der Elbe zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnen.

In seinem autobiografischen Buch für Kinder und Nichtkinder „Als ich ein kleiner Junge war“ (1957) schwärmte später der fast Sechzigjährige: „Dresden war eine wunderbare Stadt, voller Kunst und Geschichte und trotzdem kein von sechshundertfünfzigtausend Dresdnern zufällig bewohntes Museum. Die Vergangenheit und die Gegenwart lebten miteinander im Einklang.“ Wie lebendig diese Erinnerungen waren, beweist das Gedicht „Begegnung mit einem Trockenplatz“ aus dem Gedichtband „Gesang zwischen den Stühlen“ (1932), das die Kindheitserfahrungen und die Erinnerung an die Mutter reflektierte.

Im Februar 1945 verfolgte Kästner von Berlin aus die schweren Luftangriffe auf seine Heimatstadt und notierte am 14. Februar in seinem literarischen Tagebuch „Notabene 45“: „Jahrelang schien es, als wolle der Gegner Dresden vergessen. Und nun, wie wenn er alles nachholen wolle: Bomberströme überm Elbstrom. Wann werde ich erfahren, wie es den beiden geht?“ Zwei Wochen später die erlösende Nachricht: „Und die Eltern leben! Trauer, Zorn und Dankbarkeit stoßen im Herzen zusammen. Wie Schnellzüge im Nebel.“

Nach dem Krieg besuchte Kästner im September 1946 Dresden das erste Mal wieder: „Das, was man früher unter Dresden verstand, existiert nicht mehr. Man geht hindurch, als liefe man im Traum durch Sodom und Gomorrha.“ Ostern 1949 weilte Kästner dann noch einmal für fünf Tage bei den Eltern in Dresden. Die Mutter lebte wegen ihrer zunehmenden Verwirrtheit schon seit 1947 in einer privaten Nervenklinik. Im Februar 1967 kam er schließlich ein letztes Mal in seine Geburtsstadt, zu einer Lesung in der Gemäldegalerie des Zwingers.

Zu den Gedichten und Texten steuert die Slawistin, Übersetzerin und Kästner-Expertin Sylvia List kompakte und erhellende Informationen bei. Man darf gespannt sein auf die beiden weiteren Bände der Reihe. Dabei drängt sich allerdings die Frage auf: Warum wurde Leipzig nicht berücksichtigt? Schließlich studierte Kästner hier und als Journalist und Theaterkritiker begann in der Messestadt seine schriftstellerische Karriere.

Erich Kästner: Vom Glück, in Dresden aufzuwachsen, Atrium Verlag, Zürich 2022, 96 Seiten, 11,00 Euro.