Fällt der Name Charles Dickens, denkt man zumeist an Figuren wie Oliver Twist, David Copperfield oder den Unsympath Ebenezer Scrooge. Doch die tauchten in seinem literarischen Leben erst später auf. Begonnen hat Dickens als Journalist. Als Zwanzigjähriger schrieb er zunächst für die Londoner Tageszeitung True Sun Parlamentsreportagen, 1834 wechselte er zum Morning Chronicle, zwei Jahre später wurde er Herausgeber des monatlich erscheinenden Magazins Bentley’s Miscellany. Im April 1840 rief er seine erste eigene, leider nur kurzlebige Zeitschrift ins Leben: Master Humphrey’s Clock. Und 1846 gründete er schließlich die Tageszeitung The Daily News, deren Redaktion er allerdings schon bald darauf wieder verließ. Wesentlich erfolgreicher sollten in den darauffolgenden Jahren die beiden Zeitschriften Household Words und All the Year Round werden. Neben den wöchentlich erscheinenden Fortsetzungen einiger seiner Romane – „Harte Zeiten“, „Eine Geschichte zweier Städte“ oder auch „Große Erwartungen“ gehörten dazu – veröffentlichte Dickens darin eine unüberschaubare Anzahl von Reportagen, Essays, Satiren und Kommentaren zum Zeitgeschehen. Eine kleine Auswahl dieser bislang bei uns weitgehend unbekannt gebliebenen Beiträge hat der Journalist und Übersetzer Michael Klein jüngst zusammengestellt. Die zwischen 1836 und 1855 publizierten Texte, einige davon erscheinen erstmals auf Deutsch, beeindrucken vor allem durch ihre zeitlose Aktualität.
Da ist zum Beispiel „Sonntag“ – ein kleiner, mitreißend geschriebener Artikel, der die Freuden des Spazierengehens und Ausflügemachens in den Mittelpunkt stellte und sich zugleich gegen jegliche Versuche richtete, diese Art von Vergnügungen für die Arbeiter durch kirchliche oder staatliche Eingriffe zu beschränken. Denn, so argumentierte Dickens, „was der Sonntag denen tatsächlich bedeutet, die ihr Leben mit arbeitsreichen, eingeengten Beschäftigungen fristen und es gewohnt sind, ihr ganzes Leben lang diesen einen Tag als unschuldige Freude und Erholung von der Plackerei zu ersehnen“, schien in den damals herrschenden Kreisen noch nicht angekommen zu sein.
Eine ganz andere Facette seiner weitgefächerten Interessen offenbart „Der Verrat an den Märchen“, von Dickens 1853 veröffentlicht. Geschrieben als Reaktion auf einen Text von George Cruikshank, sprach er sich darin gegen die Zweckentfremdung von Märchen aus. Als jemand, der vornehmlich in seinen jungen Jahren leidenschaftlich gern Märchen las, betont er vor allem deren pädagogisch-kreativen Einfluss, wenn er schreibt: „Gerade in einem auf Zweckmäßigkeit ausgerichteten Zeitalter ist es von besonders hoher Bedeutung, Märchen Achtung entgegenzubringen.“ Und er schließt mit den Worten: „Die Welt hat uns von früh bis spät zu sehr im Griff. Lasst diese wertvolle, alte Ausflucht vor ihr in Frieden.“
Regelmäßig pflegte Dickens auch die Zusammenarbeit mit anderen Journalisten und Schriftstellern. Beispielsweise prangerte er vor dem Hintergrund einer regionalpolitischen Debatte zur Verlegung des Schlachthofes im Londoner Stadtteil Smithfield gemeinsam mit seinem Freund und Redaktionskollegen William Henry Wills in erzählerisch-aufklärerischer Form die dortigen unsauberen Praktiken an.
In Household Words erschien im Dezember 1850 ein von Dickens und dem ehemaligen Schiffsarzt Robert McCormick verfasster Artikel mit der Überschrift „Weihnachten im ewigen Eis“. McCormick schilderte darin die Erlebnisse einer Südpolar-Expedition, an der er ein Jahrzehnt zuvor teilgenommen hatte. Unter der Leitung von James Clark Ross hatten die Besatzungen der Schiffe „Erebus“ und „Terror“ drei Jahre lang die Antarktisregion erforscht. Kurz nach deren Rückkehr brach Sir John Franklin im Mai 1845 mit genau diesen Schiffen zum Südpol auf. Als der Text von Dickens und McCormick erschien, galten die Mitglieder dieser Forschungsfahrt zwar schon als verschollen, doch die beiden Autoren waren noch immer optimistisch: „Wir dürfen also noch hoffen, die Mannschaften der ,Erebus‘ und ,Terror‘ wiederzusehen und vielleicht Plaudereien über Weihnachten am Pol von ihnen zu hören, die uns das Weihnachtsfest in England verschönern.“
Der Band mit Kostproben von Dickens’ journalistischen Arbeiten ist in der im Morio Verlag erscheinenden Reihe „Klassische Literatur im schönen Gewand“ erschienen. Sie präsentiert in loser Folge „zu Unrecht unterschätzte Werke klassischer Autorinnen und Autoren sowie vergessene Meisterwerke aus den Nebenlinien der großen Literatur aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert“. So beschreibt der Herausgeber Michael Klein das Anliegen dieser kleinen, aber feinen Edition. Inzwischen liegen bereits sieben Titel vor – hoffen wir auf weitere Entdeckungen.
Charles Dickens: Bei Dämmerung zu lesen. Ungehobene Schätze aus seinen Zeitschriftenbeiträgen, herausgegeben, aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Michael Klein, Morio Verlag, Heidelberg 2022, 169 Seiten, 26,00 Euro.
Schlagwörter: Charles Dickens, Mathias Iven, Michael Klein