Vom 6. bis zum Morgengrauen des 20. November tagte der 27. Weltklimagipfel (COP27) im ägyptischen Sharm El Sheikh. Ein Ausstieg aus Öl und Gas wurde nicht beschlossen; dafür jedoch erstmals ein lauer Aufruf zur Beschleunigung des Ausbaus erneuerbarer Energien. Lobbyisten für Öl, Gas und Kohle hatten ganze Arbeit geleistet. Laut Global Witness und Corporate Europe Observatory waren deren 636 bei der COP registriert; es tummelten sich mehr „fossile“ Interessenvertreter am Ort als Vertreter der zehn am meisten betroffenen Staaten. Die ägyptische Präsidentschaft zeigte zudem wenig Interesse, den Verhandlungsprozess stringent und transparent zu führen, was auch damit zu tun haben könnte, dass das Land selbst wenig Interesse an ambitioniertem Klimaschutz hat.
Eine verspielte Chance, eine letzte? Es ist heute klar, dass der komplette Ausstieg aus Öl, Gas und Kohle unabdingbar ist, um die globale Erwärmung noch auf 1,5 Grad zu begrenzen; und das schnellstmöglich. Es ist nicht mehr erklärbar und Realitätsverweigerung, dass man im Jahr 2022 auf einem Klimagipfel dieses Ziel nicht beschließen konnte.
Der Ausstoß von Treibhausgasen – namentlich von Kohlendioxid – muss, wie gesagt, auf null gebracht werden. Die Energie der nahen Zukunft kann grundsätzlich nur noch Strom, also elektrische Energie, letztlich verwandelte Sonnenenergie sein. Sie ist nach menschlichen Maßstäben eine unerschöpfliche, erneuerbare Quelle und lässt sich sowohl direkt mit Fotovoltaikanlagen oder Sonnenkollektoren als auch indirekt mittels Wasser- und Windkraftanlagen und in Gestalt von Biomasse nutzen. Die Schwerpunkte der Bemühungen bei den bisherigen Phasen der Dekarbonisierung lagen eher beim unmittelbaren Strombedarf. In der kommenden Phase der Energiewende wird aus Strom gewonnener grüner Wasserstoff mit großer Wahrscheinlichkeit eine immer wichtigere Rolle spielen, da es Anwendungsbereiche gibt, die sich technisch oder ökonomisch gesehen nicht direkt mit Strom betreiben lassen; dort kann grüner Wasserstoff eine alternative (Zwischen)Stufe für klimaneutrale gasförmige und flüssige Kraftstoffe sein. Wasserstoff ist speicherbar, wodurch die zeitliche und örtliche Entkopplung zwischen Erzeugung und Verbrauch möglich ist. Gestützt werden müsste das Modell anfangs noch durch ein sogenanntes Back-up-System, das aus Gaskraftwerken bestünde, die bei „Flauten“ stundenweise liefen; aber auch durch Energieeinsparung auf allen Ebenen.
Das wäre in groben Zügen die eine Seite der Medaille des oft beschworenen „Strukturwandels“. Die andere bestünde meiner Auffassung nach darin, wegzukommen von kleinteiligen Ge- und Verboten, die uns Verbrauchern immer angetragen werden aus Politik und Gesellschaft wie ein Tempolimit auf Straßen und Autobahnen, weniger zu fliegen, Elektroautos zu fahren … So gut und richtig auch der Beitrag des Einzelnen in Sachen Abwendung der Menschheitskrise durch Verhinderung der Klimakatastrophe sein mag – er löst das Problem nicht. Sondern die demokratisch legitimierte Politik muss sich endlich noch stärker als bisher dazu durchringen, regelrechte „Mauern“ zu errichten: Bis hierher und nicht weiter. Das heißt, es sollte verbindlich, gerichtsfest beschlossen werden, bis zu welchen Zeitpunkten gewisse Technologien oder Systeme nicht mehr fossil betrieben werden dürften respektive ab wann einzelne fossile Energieträger und Rohstoffe sowie Produkte daraus wie beispielsweise Frischplastik nicht mehr zur Verfügung stünden. Diese gesetzlichen Rahmen schafften die immer geforderte Planungssicherheit, denn das Gros der notwendigen Investitionen hätte Laufzeiten von Jahren und Jahrzehnten.
Was letztere angeht, hat die Abhängigkeit von einem letztlich problematischen Lieferanten gezeigt, dass solche Ausstiege auch aus wirtschaftspolitischen respektive geostrategischen Gesichtspunkten angeraten sein können. Boykotte und die Reaktionen darauf haben zu massiven Turbulenzen an den Energiemärkten geführt, machten aber vielen auch klar, dass die Abkehr von fossilen Energieträgern nicht bloß ein frommer aber unrealistischer Wunschtraum von Öko-Freaks ist, sondern überlebenswichtig für unsere Gesellschaft. Unverständnis riefen in diesem Zusammenhang die Preise am Strommarkt hervor, weil der Preisbildungsmechanismus darauf beruht, dass der Preis vom jeweils teuersten, noch benötigten Lieferanten gesetzt wird – andere, billiger Produzierende machen mehr Gewinn. Der Marktmechanismus hat so sowohl positive als auch negative Seiten, jedoch funktionieren Märkte häufig so und auf einem freien Markt (der grundsätzlich Vorzüge hat) kann man billiger Produzierende auch in Situation von Knappheit nicht zur Abgabe der Güter zu niedrigeren Preisen zwingen.
Um zurückzukommen auf die „Mauern“: Darauf bewegten sich dann alle Akteure – Produzenten, Konsumenten und alle anderen am gesellschaftlichen Leben Beteiligten – zu, wohl wissend, dass die Zeit bis an die „Mauer“ endlich ist und immer kürzer wird. Sie stellten sich also darauf ein, rechtzeitig Lösungen zu suchen, um einen harten „Aufprall“ zu verhindern. Sie entwickelten Technologien, Verfahren, neue Umgangsformen und Verhaltensweisen, Lebensentwürfe und dergleichen mehr – mit anderen Worten: Die ganze Kreativität unserer Gesellschaft wäre gefordert und könnte sich entfalten, weil keine „kleinteiligen“ Vorschriften, wie was in Sachen Abwendung der Klimakatastrophe zu machen sei, diese Kreativität behinderte. Diese Veränderungen und Entwicklungen begännen natürlich nicht erst kurz vor ultimo, sondern gestalteten sich als Prozess; mit anderen Worten – es gäbe schon bald positive Klimaeffekte, wie wir sie auch schon heute haben. Der Begriff „Technologieoffenheit“ bildet in Teilen das ab, was ich meine, greift aber zu kurz, denn es ginge um mehr, wie der Klimaforscher Anders Levermann sagt, wenn er von einem „Wachstum in die Vielfalt“ spricht. Ein derartiges Wachstum könne man erreichen, indem man „eine Knappheit (hier in Gestalt der „Mauer“ – St. W.) generiert, die zu Innovationen führt, wenn man sie lässt“. Dabei fänden sich „im endlichen Raum unendliche Möglichkeiten“.
Dieses Herangehen unterschiede sich deutlich von der oft zitierten „Ökodiktatur“, da es nicht auf Repression setzte und nicht persönliche Freiheiten einschränkte, begrenzte oder teils sogar abschaffte. Im Gegenteil, eben beschriebener „Raum unendlicher Möglichkeiten“ setzt auf kreative Freiheit und angstfreies Mittun aller. Die Zahl von möglicherweise doch notwendigen Verboten, Regulierungen und Preisanreizen wäre minimal. In den um die Klimakrise geführten aufgeheizten Debatten ist das Stichwort „Ökodiktatur“ ein Kampfbegriff und dient häufig zur Kritik, ja Diffamierung jeglicher vernünftiger Maßnahme, ja der ganzen „Richtung“.
Es werden hierzulande auch andere Strategien im Umgang mit den katastrophalen Folgen des Klimawandels diskutiert. Statt ausschließlich auf Emissionsreduktion zu setzen, so diese Stimmen, müsste stärker die Anpassung an den Klimawandel ins Auge gefasst werden durch Maßnahmen wie den Bau von Dämmen, freiwillige Umsiedlungen, aber auch Gesundheitsprogramme. Wobei dabei auch Technologien zur Entfernung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre durch (Wieder)Aufforstung von Wäldern oder durch Speicherung in geologischen Lagerstätten zur Anwendung kämen. Man tolerierte so noch länger CO2-Emissionen auf hohem Niveau. Wenn diese Debatte auch noch mit dem Subtext „Man kann über den Klimawandel unterschiedlicher Meinung sein“ geführt wird, dann häufen sich meine Zweifel, weil Kipppunkte als Schwellenwerte im Klimasystem wie „points of no return“ reagieren: Ihr Überschreiten führte zu sprunghaften und unumkehrbaren Veränderungen des Erdklimas. Ob gegen derartige unberechenbare, chaotische Phänomene „widerstandsfähigere Strukturen“ aufgebaut werden könnten – fraglich. Die dann deutliche Erderwärmung und der weiterhin zu hohe Ressourcenverbrauch führten eher zu einer grundlegenden Destabilisierung wahrscheinlich aller natürlichen Systeme mit heute unabsehbaren Folgen für die Menschheit.
Fazit: Sowohl international als auch national gibt es (noch) keinen Konsens über Notwendigkeit und Art der energetischen Transformation, die darüber hinaus im extrem konfliktreichen Zusammenwirken vielgestaltiger Krisen bewältigt werden muss.
Schlagwörter: Dekarbonisierung, Klimapolitik, Ökodiktatur, Stephan Wohanka