26. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2023

Julian Marchlewski im Sommer 1920

von Holger Politt

Dem Studienfreund Frank Poppe (1958-2022) zum Abschied.

 

Dem langjährigen Kampfgefährten Rosa Luxemburgs fiel Sommers 1920 im Kampfgetümmel des Krieges zwischen Sowjetrussland und Polen eine herausragende Funktion zu. In gewisser Weise war Julian Marchlewski, als die Kriegsentscheidung heranreifte, der führende politische Kopf auf sowjetischer Seite. Er stand an der Spitze einer provisorischen revolutionären Polenregierung, die nach dem Einzug der Roten Armee in Warschau dort das Heft des Handelns übernehmen sollte. So wollte es Lenin, der Sowjetführer, der nämlich sah in diesem Schritt einen wichtigen Baustein auf dem Weg nach Berlin, um dort die bislang ausgebliebene Weltrevolution zu entfachen.

Erhalten geblieben sind aus dieser Zeit polnisch geschriebene Briefe Marchlewskis an Ehefrau und Tochter in Moskau, die allerdings bis auf wenige Ausnahmen nicht publiziert worden sind. Die Originale liegen in einem Moskauer Archiv, kurz vor dem Ende der Volksrepublik Polen sollten sie in einer Ausgabe gesammelter Briefe Marchlewskis für die breitere Öffentlichkeit erscheinen. Die gute Absicht fiel indes den aufgewühlten Wendezeiten von 1988 bis 1990 zum Opfer – anschließend krähte kein Hahn mehr nach diesen wertvollen Zeugnissen eines unglaublichen Auf und Abs.

Marchlewski gibt sich am 28. Juli 1920 in einem Brief aus Minsk siegessicher, die Front verläuft quer durch Belarus: „Wir schlagen uns unglaublich! Einen Tag über standen wir in Smolensk herum, anderthalb Tage in Minsk. Bald marschieren wir hier ab. […] Von den nach vorne verlegten Armeeeinheiten meistens lauter sehr gute Nachrichten. Doch noch ist ungewiss, ob wir auf dem rein polnischen Gebiet nicht auf ernsthaften Widerstand treffen werden.“

Den nächsten Brief vom 29. Juli 1920 schickt Marchlewski bereits aus dem polnisch wie jüdisch geprägten Wilna (Vilnius) auf den Weg: „Von hier setzen wir uns sicherlich übermorgen nach Białystok in Bewegung. Ich habe das Manifest über das Provisorische Revolutionskomitee geschrieben. Wahrscheinlich wirst Du es schneller zu lesen bekommen als diesen Brief, denn er wurde telegraphiert, der Druck aber wird erst in der Nacht fertig. Ansonsten geben wir noch ein Kommuniqué über die Machtübernahme heraus […]. In Wilna einstweilen Durcheinander, unsichere Lage und sehr schwer, denn faktisch steht niemand auf unserer Seite.“

Am 6. August meldet sich Marchlewski aus Białystok, einer „Fabrikstadt mit mehrheitlich Juden. Die Arbeiter-Juden stellen die Mehrheit. Ein überaus tüchtiges und sympathisches Milieu, wäre da nur nicht der abschreckende Jargon, sonst wäre alles in Ordnung.“ Marchlewski bereitet sich auf die entscheidende Etappe nach Warschau vor: „Uns erreichten Nachrichten aus Warschau. Dort macht sich Panik breit, sie evakuieren sich offensichtlich bereits nach Poznań und Toruń. Die Stimmung der Arbeiter wahrscheinlich geteilt: die einen wünschen die Ankunft der Roten Armee, die anderen sind dagegen.“ Und zur militärischen Lage wird folgendes mitgeteilt: „Die polnische Armee ist sichtlich nicht mehr kampffähig, wobei sie auch noch nicht auseinanderläuft, denn wenn sie sich zurückzieht, nimmt sie alles mit. Die Militärs schätzen ein, dass die Polen, wenn sie sich nicht an Narew und Bug halten können, auch nicht an der Weichsel verteidigen können, so dass die Hoffnung besteht, in wenigen Tagen in Warschau zu sein.“

Am 15. August 1920, dem Schicksalstag in diesem Krieg, geht folgende Mitteilung nach Moskau: „In ein paar Stunden fahren wir weiter, Richtung Warschau. Es scheint, zumindest kann das aus dem bisherigen Verlauf geschlossen werden, dass die polnische Armee nicht in der Lage sein wird, Warschau zu verteidigen, sodass wir […] in zwei Tagen in Warschau sein dürften. Falls die Nachrichten nicht trügen, fangen die Arbeiter in Warschau an sich zu rühren. So sollen in Warschau Proklamationen aufgetaucht sein, mit denen die Arbeiter das Militär aufforderten, die Stadt nicht zu verteidigen und keine Lebensmittel und Waren nach außerhalb zu schaffen, auch drohten sie, wenn dem nicht nachgekommen werde, die Armee nicht durchzulassen. Sollte das stimmen, dann wird es so aussehen, dass die Rote Armee nur mit kleinen, ausgewählten Einheiten einmarschieren wird, um sich mit den Arbeitern zu verbrüdern, und die Arbeiter werden mit Unterstützung der ‚politischen Armeeeinheiten‛ gleich die Ordnung durchsetzen. Zu diesem Zweck werden wir an der Front gebraucht.“

Nach der überraschenden Niederlage der Roten Armee vor den Toren Warschaus schreibt Marchlewski am 17. August 1920: „Der Marsch auf Warschau ist verlegt. Wir sind, wie ich geschrieben hatte, am Sonntag an die Front gefahren. Als wir in Wyszków (im Gouvernement Siedlce am Bug) ankamen, erfuhren wir, dass der Vormarsch der Roten Armee gestoppt wurde. Die polnische Armee leistete starken Widerstand.“ Die ganze Tragweite der Niederlage ist Marchlewski noch nicht klar: „Noch fällt die Entscheidung schwer. Zur Verteidigung Warschaus wurden Einheiten zusammengeführt, die überwiegend aus Freiwilligen bestehen, wobei die Jugend die Hauptsache spielt; vor allem diese Einheiten schlagen sich hervorragend, aber sie werden ihnen nicht reichen; falls also diese Kräfte erschöpft sein werden, werden sie verteidigen, doch dann werden die Arbeiter eingreifen. Man muss also noch abwarten. […] Die Nachrichten aus Warschau über die Stimmungslage sind bislang höchst widersprüchlich.“

Erst am 19. August 1920 wird eingeräumt: „Die Lage an der Front hat sich weiter verschlechtert, falls wir keinen Nachschub erhalten, könnte es eine ernste Niederlage geben.“ Wenige Tage später, am 23. August 1920, klingt es so: „Ich bin sehr skeptisch. 1) Die Niederlage der Armee gleicht einer politischen Niederlage, da die polnische Regierung den Sieg gewaltig ausschlachtet. 2) Es fehlt mir der Glaube an den Erfolg des neuen Angriffs“. Und in den Septembertagen hält er fest: „Die Armee ist in einem beklagenswerten Zustand. Es gibt nichts zum Einkleiden, nichts zum Essen.“

Der Friedensschluss im polnisch-sowjetischen Krieg, der im März 1921 in Riga von beiden Seiten abgesegnet wird, ist zugleich die Geburtsstunde des Konzeptes eines Sozialismus nur in einem Land, dessen Möglichkeit Rosa Luxemburg aus guten Gründen stets und entschieden ausgeschlossen hatte. Die Erfindung des Luxemburgismus war Stalins Antwort auf diese tiefe Einsicht.