Es gibt Kindheitsträume, die noch das Erwachsenenalter begleiten: Auf dem Weihnachtsmarkt Riesenradfahren. Möglichst in der Dämmerstunde und in den Abend hinein gleitend. Ist der Himmel wolkenlos, kann man vielleicht die letzten Augenblicke des Sonnenuntergangs erhaschen. Düfte steigen auf wie sie nur die Vorweihnachtszeit mit sich bringt. In die Lüfte getragen werden und zu den erleuchteten Buden zurückkehren. Auf und ab, auf und ab. Welche Lust.
Mit den Riesenrädern verhält es sich ähnlich wie beim Streben nach Höher, Weiter, Größer und Attraktiver. Einmal geplant, konstruiert, gebaut und in Bewegung gesetzt, wollte man immer höher hinauf. Eine verbriefte, sehr einfache, aber funktionierende Auf-und-Nieder-Maschinerie sah ein englischer Reisender im 17. Jahrhundert in Plowdiw (Bulgarien). Der Spieltrieb von Kindern hatte die Anregung dazu gegeben. An einem großen Rad waren Sitze befestigt und das Vergnügungs-Objekt wurde im Handbetrieb in Schwung gehalten (das Jubelgeschrei der Knaben war zu hören).
Das erste ernstzunehmende „Fahrgeschäft“ (das meint Karussells, Riesenräder, Achterbahnen und dergleichen) errichtete ein Ingenieur für Brückenbau und Eisenbahntechnik aus Pittsburgh: George Washington Gale Ferris. – Zur Weltausstellung 1893 in Chicago wünschten die Veranstalter eine Attraktion zu präsentieren, die den Eiffelturm (Weltausstellung von 1889 in Paris) übertrumpfen sollte. Ferris hörte davon und überlegte. In Frage kam für ihn ein Riesenrad! Für die Konstruktion nahm er sich das Hochrad mit Speichen und Nabe zur Vorlage. Er trug seine Idee dem Weltausstellungsvorbereitungs-Komitee vor. Man fand den Vorschlag außergewöhnlich originell, jedoch durch und durch utopisch. Das beeindruckte Ferris nur kurzzeitig, dann setzte er zum nächsten Vorstoß an. Nicht nur ingenieurtechnisch, auch diplomatisch bewies er großes Geschick.
Ferris lenkte das Augenmerk auf das Ansehen der USA, welches durch ein Riesenrad noch gewinnen könne – und auf den überragenden Forschergeist der Vereinten Staaten, der ihren Weltruf nur festige. Das half. „Ferris Wheel“ wurde gebaut. Es besaß eine Höhe von 8o,5 Metern, hatte einen Raddurchmesser von 76,2 Metern und trug das schaulustige Volk in 36 Gondeln über das Ausstellungsgelände.
Nun wollte Las Vegas ein solches „Fahrgeschäft“ und Wien und London und Paris und Amsterdam und Moskau. Kurzum, Riesenräder auf allen fünf Kontinenten. – In Dubai steht derzeit das weltgrößte Riesenrad mit 260 Metern Höhe. Aber das höchstgelegenste „Fahrgeschäft“ Europas, von dem man bis zu den Alpen und zum Schwarzwald blicken kann, ist in Sonnenbühl auf einem 816 Meter hohen Berg stationiert. Londons Riesenrad („London Eye“) liegt dicht an der Themse (vielleicht erklingt zur Begleitung Händels Wassermusik). In München gibt es ein Vergnügungsrad mit dem Namen „Umadum“. Das ist kein balikunesischer Dialekt, es handelt sich um eine urbayerische Wortschöpfung; Übersetzung: rundherum / rundum.
An Berühmtheit wohl kaum zu überbieten, ist das Riesenrad im Wiener Prater. Anlass zum Bau gab das 50jährige Thronjubiläum von Franz Joseph I. Durchdacht, geplant und errichtet von zwei englischen Ingenieuren: Walter B. Basset und Harry Hitchens. Im Sommer 1897 war der Aufbau zur Hälfte fertiggestellt und bereits 15 der insgesamt 30 „Waggons“ (Gondeln) eingehängt. Festliche Einweihung mit Musik und großem Andrang der Wiener am 3. Juli desselben Jahres. – Während des Ersten Weltkrieges Enteignung des Besitzers Walter B. Basset. Im Jahr 1919 Erwerb des Riesenrades durch einen Prager Kaufmann. Sein Leben endete später in Auschwitz. – Das Rad wurde unter Denkmalschutz gestellt. Das bewahrte es nicht vor schweren Schäden im Zweiten Weltkrieg. Nach 1945 erhielt Wiens Wahrzeichen eine grundlegende Sanierung. Um seine Stabilität zu gewährleisten, entschloss man sich, das Rad nur noch mit 15 „Waggons“ zu bestücken. Nun dreht es sich wieder und hebt die „Waggons“ bis zu einer Höhe von 64,75 Metern empor, zum Vergnügen der Besucher.
Von Wien nach Berlin, wo es in den Stadtbezirken überall weihnachtet. Zum Roten Rathaus und dem Weihnachtsmarkt in Berlins Mitte. Die Marienkirche zur Seite und den Neptunbrunnen mittendrin. Und Willenborgs Riesenrad. Das modernste seiner Art europaweit. Mächtig, prächtig und in buntem Licht erstrahlend. Der Beliebtheit wegen ist es häufiger Gast in der Stadt. Hocherfreut und voller Neugier besteige ich eine der 24 Gondeln, die jeweils acht Personen aufnehmen können und Städtenamen tragen: „Zu Gast in Bremen, – in Straubing, – in Rosenheim, – in Hamburg …“ Die Tür hinter mir wird geschlossen, und das große Rad mit einem Durchmesser von 42 Metern beginnt, sich langsam zu drehen. Die kunterbunten Buden unter mir werden klein und kleiner, als entstammten sie einer Spielzeugschachtel. Auf der Eisbahn rings um den Neptunbrunnen wuseln winzig die Schlittschuhläufer, schwingen Pirouetten, versuchen einen Rittberger, stürzen, stehen auf und wuseln weiter. Die gutgewachsene Weihnachtstanne, die eine Fichte ist, lässt sich selbstgefällig in ihrem leuchtenden Schmuck bewundern.
Ein freundlicher Herr von der Technik steigt mit in die Gondel („Zu Gast in Regensburg“) Auf meine Bitte hin erklärt er Aufbau und Antrieb des Willenborg’schen Superriesenrades, spricht von den strengen Sicherheitsmaßnahmen (TÜF alle zwei Jahre und Begutachtung durch die Bauaufsichtsbehörde am Ort der Aufstellung). Hier darf man getrost einsteigen. – Das pracht- und prunkfunkelnde Lichterspiel an den zwölf Speichen und dem gesamten technischen Wunderwerk wird energiebewusst eingesetzt (450.000 LEDs). Für Gehbehinderte und Rollstuhlfahrer stehen zwei besondere Gondeln bereit („München“ und „Nürnberg“). Allen Fröstelnden sei’s gesagt, die Sitzbänke sind erwärmt. – Ich lerne, dass ein Kettenkarussell zu den „Rundfahrgeschäften“ gehört und das Riesenrad zu den „Hochfahrgeschäften“.
Auf dem höchsten Punkt verweilt das „Hochfahrgeschäft“ und gewährt einen Rundblick über die Stadt. Die Lichter gehen an. Und ich bin dem Abendhimmel um 45 Meter näher gerückt.
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