25. Jahrgang | Nummer 24 | 21. November 2022

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Das Abschiedsdinner“ im Schlosspark-Theater und „Elfriede Jelinek. Die Sprache von der Leine lassen“ im Kino.

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Schlosspark: Redeschlachten im Salon

Genervtes Stöhnen: Ein nervendes Zusammensein mit Uralt-Freunden steht an. Man hat sich, leider, mit den Jahren einfach nichts mehr zu sagen. Möchte mit ihnen lieber nichts mehr zu tun haben. Die einst innige Freundschaft ist erkaltet. Nur noch missmutig und routinemäßig wird die ausgeleierte Beziehung gelangweilt gepflegt und als Anstrengung empfunden. Aber das will man nicht offen zugeben. Man ist eben feige und lügt um den heißen (oder eben kalten) Brei herum.

So ergeht es Pierre (Karsten Kramer) und Clotilde (Krista Birkner), einem Mittelstandsehepaar in den mittleren Jahren. Doch nun will es endlich Schluss machen mit diesem öden Freundschaftstheater, will Abgelebtes radikal abstoßen.

Den Anfang will man mit Antoine (Dominique Horwitz) plus Gattin machen. Bei einem Abendessen, das als Abschiedsfutter dienen soll. Doch es kommt anders: Antoine (Dominique Horwitz) erscheint solo. Madame hat einen beruflichen Termin; sie ist freischaffende Schauspielerin. Doch Antoine riecht den Braten, vermasselt das insgeheime Aussortieren und kämpft tapfer um Wiederbelebung der komatösen Freundschaft. Dabei kommt vieles auf den Tisch, was im Lauf der Jahre von allen unter den Teppich gekehrt wurde.

Das berühmte französische Autorenduo Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière macht mit Feinsinn für Aberwitz und Groteske aus diesem Dinner einen sprachmächtigen Abend der rücksichtslos ungeschminkten Wahrheiten. Die Lage der Beteiligten wird zunehmend schockierend, es kracht gehörig, doch das Gewitter im Salon (Bühne: Stephan von Wedel) entfaltet auch seine reinigende Kraft. Man steht am Ende klüger da als am Anfang. Geläuterter. Demütiger. Kommt einander herzlich, ja geradezu lustvoll wieder näher. Oder nahe. Vor allem die beiden Männer, da kann Clotilde nur staunend beiseite stehen. Auf ein neues Miteinander. – Santé!

Philip Tiedemann gehört zu den mittlerweile selten gewordenen Regisseuren, die mit ihrer so reichen Fantasie sowie profundem handwerklichen Können dem Stück dienen. Und es nicht mit kuriosen oder gar kryptischen Einfällen in die Unverständlichkeit treiben, sondern leuchten lassen.

Und so entfesselt der grandiose Tiedemann komödiantisch leicht eine frappierend präzise schauspielerische Virtuosität – vor allem bei den Mannsbildern. Clotilde in der hier eher (etwas undankbaren) dekorativen Nebenrolle bleibt die Aufgabe der immer wieder überraschten, ja irritierten Zuschauerin beim Clinch zwischen Antoine & Pierre, die sie mit saftigen Sarkasmen schlagfertig meistert.

Die mit Slapstikiaden gespickte, geschickt ins Groteske, ja Absurde getriebene Redeschlacht zwischen zwei Männern treibt freilich immerzu auch auf Momente entsetzten Innehaltens zu, in denen Abgründe gähnen und Tragik aufblitzt. Das ist ganz starkes, ganz großes Schauspielertheater, wie man es allzu häufig nicht findet. Das ist Hauptstadttheater, lässig auf Augenhöhe mit der hoch subventionierten Staatsbühnen-Konkurrenz.

Denn hier passt einfach alles: Ein witziges Stück (Deutsch: Georg Holzer) übers immer wieder bedenklich mäandernde Menschenwesen mit obendrein scharf dosierten Seitenhieben auf soziale, gesellschafts- und theaterpolitische Schieflagen. Ein Regisseur mit Scharfblick auf all das. Und im Mittelpunkt zwei tolle Schauspieler: Kramer & Horwitz. Ein Glücksfall. Wow! Wir werfen Rosen auf alle und alles.

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Filmtheater: Berühmtsein macht kaputt

Sonntags immer in die Kirche! Dafür sorgte Großmutter. „Maria Treu“ in der Wiener Josefstadt. Dort tropft das Blut von den Deckenfresken des Franz Anton Maulbertsch mit den sich opfernden Heiligen direkt in die schreckweiten Augen der kleine Elfriede. Jeden Sonntag dieses schön gemalte Grauen. Denn die Verwandtschaft mütterlicherseits war streng katholisch; am allerstrengsten Großmutter.

Der Vater, Ingenieur, war sozialdemokratisch, gegen „Kerzlschlucker“ und jüdisch. Er sorgte früh für Aufklärung, erzählte vom Holocaust, zeigte Bilder mit Bergen von Toten. Das reale Grauen.

Für ein Kind, ein sensibles, sind solche Bilder, die aus dem Kirchenhimmel sowie die aus den Vernichtungshöllen, geradezu traumatisch. Sie werden immerfort schwer lasten auf dem Leben der Elfriede Jelinek. Wie die Prägungen eines zwischen religiös-bildungsbürgerlich, die Mutter, und atheistisch-klassenkämpferisch, der Vater, scharf geteilten Elternhauses. Aus diesen Gegensätzen erwuchs das gewaltige, schmerz- und wutvolle Werk der in ihrer österreichischen Heimat als Nestbeschmutzerin brutal angefeindeten Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. „Ich glaube, dass der Künstler in seiner Kindheit so viel an Frustrationen und Leid auftankt, dass es dann für den Rest seines Lebens reicht“, sagt sie in dem poetischen und vielschichtigen, einfühlsamen und ja – bei aller gebotenen Distanz – liebevollen Filmporträt „Elfriede Jelinek. Die Sprache von der Leine lassen“ von Claudia Müller.

Elfriede, 1946 geboren, muss nicht nur früh schon „Kerzln schlucken“, sondern noch Geige und Klavier lernen. Die Mutter will mit gnadenloser Zucht aus dem Einzelkind ein Wunderkind, ein „Instrumental-Genie“ machen. Elfriede flüchtet sich ins Schreiben, das Einzige, was jenseits lag vom mütterlichen Ehrgeiz. Sie gewann einschlägige Preise. Sie studierte (schon mit 13 am Wiener Konservatorium), tummelte sich in der Wiener Avantgarde („wir sind lockvögel, baby“ ihr erster Roman). Und flutet fortan den internationalen Literatur- und Theaterbetrieb (Königin der Postdramatik). Mit einzigartig kunstvoller, auch artifizieller Sprachkraft stellt sie gesellschaftliche, sonderlich österreichische Verlogenheiten unbarmherzig bloß – und zugleich das allgemein menschliche Verdrängen und Vergewaltigen. Immer geht es um die allgegenwärtig blutenden Wunden. Um die elende Gewalt, Gleichgültigkeit, Ignoranz.

So wurde die Veröffentlichung ihres Stücks „Burgtheater. Posse mit Gesang“ 1985 zum Riesenskandal. Es handelt von der Burgtheater-Heiligen Paula Wessely und ihrer führenden Mitwirkung im unsäglich antisemitischen NS-Hetzfilm „Heimkehr“, über den die Wessely später scheinheilig behauptet, nicht gewusst zu haben, was sie da hingebungsvoll spielte und sagte.

Fortan ist Jelinek in Österreich die „böse Hex“, derweil die Bewunderung ihrer Tapferkeit und Energie international wächst wie ihr vielgestaltiges Werk, das sämtliche literarische Gattungen umfasst und stets aufs heftigste polarisiert.

Also wie immer schon: Die radikale, niemanden, unbarmherzig auch sich selbst nicht schonende Jelinek im Spannungsfeld der Gegenpole – für sie zunehmend schwerer aushaltbar. So hat sie sich seit dem Nobelpreis 2004 aus der Öffentlichkeit weitgehend zurückgezogen. „Rausgehen und reisen, das kann ich nicht.“

Also gibt die Dokumentarfilmerin Claudia Müller ihrem Künstlerporträt (Kamera: Christine A. Maier) den Untertitel „Die Sprache von der Leine lassen“. Damit ist auch filmische Methode benannt: Ein Strom aus Zitaten, gesprochen von Stefanie Reinsperger, Sandra Hüller, Sophie Rois, Maren Kroymann, Ilse Ritter und Martin Wuttke. Dazu Bildmaterial aus den Archiven. Ohne Chronologie; eine Collage.

Der lakonisch-melancholisch gefärbte Film nähert sich – behutsam direkt – einer epochalen Künstlerin; zeigt ihr Leid, ihre Größe, ihre dramatische Einbettung ins Gesellschaftlich-Historische und feiert eine elegante, schöne Frau. Man ist bewegt, beglückt und möchte ihr freundschaftlich die Hand reichen. Zum Schluss sagt sie: „Man darf nur im Verborgenen sein. Berühmtsein macht kaputt. Es ist alles gesagt. Jetzt erklär ich nichts mehr.“

Wie wahr, wie bitter, wie tragisch. Doch wir haben sie ja weiterhin: Im Lesesessel. Im Theater. Im Film.

Am 16. Dezember im Deutschen Theater: Uraufführung „Angabe der Person“ von Elfriede Jelinek, Regie Jossi Wieler. Im Repertoire des Berliner Ensembles das Jelinek-Stück „Schwarzwasser“; Regie Christina Tscharyiski.