25. Jahrgang | Nummer 23 | 7. November 2022

Gribojedows Tod in Teheran

von Detlef Jena

Als die Komödie des russischen Dramatikers Alexander Gribojedow „Verstand schafft Leiden“ 2004 in einer neuen deutschen Übersetzung und Bearbeitung durch Peter Urban unter dem Titel „Wehe dem Verstand“ erschien, haben die Großmeister des deutschen Feuilletons geradezu hymnisch reagiert. Ja natürlich – damals keimten in der säkularen Ost-West-Politik noch gewisse Hoffnungen, dass der Westen die Sicherheitsmahnungen aus Moskau ernst nehmen könnte und dass die Moskauer Regierung ihr traditionelles Misstrauen gegen den Westen dämpfen würde. Die deutsche Bundesregierung ging berechtigt von langfristigen stabilen und friedlichen Beziehungen aus, gestärkt mit dem aus neuen Rohren sprudelnden Öl und getreu der seit Jahrhunderten immer wieder einmal erfolgreich praktizierten Devise: Zobelfelle gegen maschinelles Räderwerk. Doch ach, wie oft hatten Macht und Markt die Harmonie auch schon in einen Abgrund gestürzt.

2004 konnte Reinhard Lauer jedenfalls in der FAZ noch unbeschwerten Herzens jubeln: „Hundertachtzig Jahre nach seiner Entstehung ist das Stück nicht nur nach Sprache und Witz und in seiner aufrüttelnden Spießerkritik lebendig geblieben, sondern es lässt sich unschwer auch auf die Probleme unserer Gegenwart umpolen: Eine verkrustete, unbewegliche Gesellschaft, in der Karrierestreben und Opportunismus herrschen […] ist das nicht ein Spiegel unserer Welt? Wie würde ein Tschaski (der aus dem Ausland nach Moskau zurückgekehrte Held des Stückes) hier und heute, im Klima der political correctness, aufgenommen? Wehe dem Verstand!“ Wenn ein Theaterstück, 1823 geschrieben, auch in unserem Jahrhundert so aufmerksam und freigeistig analysiert wird, dann ist das Weltliteratur und sein Autor aller Aufmerksamkeit wert. Unabhängig von allen politischen Rankünen.

Doch wie würde dieser Kommentar wohl heute klingen, da sich auch Deutschland in der Ukraine mit Russland verhakt hat und jeder realpolitische Gedanke an ein Ende des Leidens der Menschen verpönt ist?

Aber kurz zur Erklärung des Stückes: Gribojedows „Wehe dem Verstand“ (Russ.; gore ot uma) ist die erste und wohl auch bedeutendste russische Gesellschaftskomödie. Diese „geniale Komödie“ (FAZ) ist in Deutschland leider nie so recht heimisch geworden. Dabei ist sie eine zeitlose Parabel auf den Umgang mit Andersdenkenden und Abweichlern. Tschaski, ein junger Freigeist, kehrt wegen seiner Jugendliebe Sofija nach dreijähriger Abwesenheit in seine Heimatstadt, das große und ruhmreiche Moskau zurück. Für die Gesellschaft, die er dort vorfindet, mit ihren regierungsfrommen Beamten, stupiden Militärchargen und gegenüber jeglichem Fortschritt tauben Fürsten, hat Tschaski nur Spott übrig. Doch die Gesellschaft rächt sich an ihrem Kritiker, indem sie ihn mit Hass und Bosheit überschüttet und am Ende für verrückt erklärt. Dazu benötigte der Autor im brillanten Erfassen konkreter Situationen der gesellschaftlichen Widersprüche nicht einmal eine epische und tiefgründige Erzählung. Armer Poet, auch er, der so voller Hoffnungen und Lust schrieb, ertrank im Strudel eines Krieges der großen Mächte

Er musste erfahren, wie eine spöttisch karikierte Gesellschaft mit ihren Kritikern verfahren kann – das hatte das deutsche großbürgerliche Feuilleton in seinen Lobpreisungen im Jahre 2004 natürlich nicht im Sinn.

Am 15. Januar 1795 ist Gribojedow in Moskau geboren worden. Seine Karriere war eher unauffällig: Studium an der Moskauer Universität. 1812 Eintritt in ein Husarenregiment. Vier Jahre später Wechsel in den diplomatischen Dienst. 1818 Sekretär der russischen Gesandtschaft in Persien mit dem Dienstsitz Tiflis in Georgien. Der Kaukasus war bereits damals ein Pulverfass im Ringen der Großmächte Russland und Persien und so mancher auffällige junge russische Freigeist durfte sich dort zum Ruhme seines Zaren „bewähren“.

Gribojedow nahm unbefangen kulturpolitische Projekte in Angriff, die dem Nationalstolz der Georgier dienten und gleichzeitig deren Vertrauen zum „schützenden“ Mütterchen Russland festigen sollten. Ein zweischneidiges Unterfangen.

Er hatte früh begonnen, satirische Komödien zu schreiben. Keines seiner Stücke erreichte jedoch die Popularität und vor allem die Langzeitwirkung wie „Gore ot uma“. Das Stück lebte von der pointierten Charakterisierung seiner Typen, wie der Dichter sie auch in der russischen Diplomatie im Kaukasus während des Krieges erlebte: Da agierte Famusow, ein Liebhaber überkommener Misswirtschaft und Reformhasser, sein Sekretär Molchalin, ein erstrangiger serviler Schmeichler, Reptilow, ein junger Adliger, liberal und verrückt nach englischem Lebensstil, und vor allem Tschaski, der ironische Satiriker, der gerade aus Westeuropa zurückgekehrt war und sich über die Schwächen der anderen lustig macht. Eigentlich, wenn man es recht bedenkt, eine Art der Darstellung, wie sie auch die moderne marktkritisch orientierte Dramatik des Westens liebt.

Die russische Zensur reagierte dagegen empört und verbot eine Drucklegung des Stücks. Doch im Untergrund kursierten Abschriften und eine Aufführung erlebte Gribojedow nur in einer geschlossenen Veranstaltung vor russischen Offizieren in Jerewan – fern von Moskau. Doch die Strafe folgte auf dem Fuße.

Gribojedow wurde 1828 als Diplomat in die Wirren des russisch-persischen Krieges (1821–1828) und des Persien knechtenden Friedens von Turkmantschai (Februar 1828, nach dem Persien unter anderem das Khanat Jerewan an Russland abtreten musste) verwickelt.

Man schickte ihn als bevollmächtigten Minister nach Persien, um Reparationsleistungen einzutreiben und mit Fath Ali, dem Schah, zu sprechen. Der Auftrag glich einem Selbstmordkommando. Wenige Tage vor seiner Rückreise floh der armenische Christ Mirza Jacub, der in persischer Gefangenschaft zum Islam konvertiert war und inzwischen einen hohen Posten in der persischen Finanzverwaltung bekleidete, in die russische Botschaft und bat um Hilfe für eine Rückkehr nach Armenien. Persiens Regierung verlangte von Gribojedow, Jacub auszuliefern. Die Lage spitzte sich zu, als zusätzlich zwei junge Armenierinnen in der Botschaft um Asyl baten.

Vor dem Botschaftsgelände rotteten sich bewaffnete Demonstranten zusammen und drohten mit dem Sturm auf die russische Vertretung. Am Abend des 29. Januar 1829 wiegelten islamische Geistliche die anwachsende Menge auf. Sie streuten, die Russen hielten zwei islamische Mädchen gefangen und wollten sie zwangsweise zum Christentum bekehren. Am folgenden Tag stürmte die Menge das Gebäude. Mit dem hoffnungsvollen Dichter Gribojedow fanden 44 weitere Botschaftsmitarbeiter den Tod.

Persien nahm blutige Rache für die Demütigungen, die es durch Russland im Frieden von Turkmantschai hinnehmen musste. Gribojedows Leichnam wurde nach Tiflis überführt, wo man ihn in einem Kloster beisetzte. 1832 überführte man ihn in eine Grotte auf dem Gelände des heutigen Pantheons am Berg Mtazminda.

Der Sturm auf die Botschaft und der Mord an so vielen Russen löste eine neue zwischenstaatliche Krise aus. Aber die Monarchen verständigten sich in ihrer vor Weisheit strotzenden Güte und vor allem um ihrer eigenen Herrschaft willen. Persiens Schah schickte Gesandte nach Petersburg und die überreichten dem Zaren Nikolaus I. einen der größten und wertvollsten Diamanten der Welt, den „Schah-Diamanten“. Der Diamant hatte wiederum seine eigene, hier nur summarisch zu streifende kolonialkriegerische Geschichte:

Er wurde um 1450 in Golkonda (Indien) gefunden. Nach seiner Entdeckung gelangte der Diamant in den Besitz des Sultans von Ahmadnagar. 1591 eroberte der Großmogul Akbar I. die Stadt Ahmednagar, die er plünderte und den Diamanten mit nach Delhi nahm. 1738 griff Nader Schah Indien an und im Rahmen der Plünderungen von Delhi gelangte der Diamant nach Persien. Jetzt ruht das gute Stück wohl verwahrt im Moskauer Kreml.

Ist das nicht ein genialer Wink des Schicksals? Könnte man da nicht an die alten Traditionen monarchischer Friedensschlüssen anknüpfen und den Diamanten vielleicht dem amerikanischen Präsidenten mit großer Geste schenken? Natürlich nicht persönlich, das verbietet die freiheitlich-demokratische Moral, aber vielleicht zum Wohle einer Gesellschaft russisch-amerikanischer Freude Dann wäre nicht einmal Gribojedows Tod ganz umsonst gewesen. Vorerst heißt es aber noch: „Wehe dem Verstand“ oder die freundliche Erinnerung daran, dass man bei allen Konflikten niemals den geografischen Faktor vergessen sollte.

Es ist doch merkwürdig, Gribojedows Schicksal erinnert daran: auch 200 Jahre später eskalieren die Großmachtinteressen rund um das Schwarze Meer. Russland, der Iran, das ewige Schlachtfeld Ukraine und die ganze Europäische Union sind mit handfesten eigenen Interessen in einen Krieg involviert, der vollkommen sinnlos ist und nur Verlierer kennt. Ja, das berühmte Feuilleton der FAZ hat sogar geschrieben, dass „Wehe dem Verstand“ auch auf die deutsche Gesellschaft anwendbar ist. Was soll man dazu sagen!