25. Jahrgang | Nummer 23 | 7. November 2022

Geschichte aus ungewöhnlichem Blickwinkel

von Viola Schubert-Lehnhardt

Die Autorin muss den Haushalt ihres verstorbenen Vaters Kurt Schindler auflösen und stößt dabei auf jede Menge Dokumente und Fotos, die Anlass zu der nun vorliegenden umfangreichen Recherche gegeben haben. Der abgedruckte Stammbaum reicht bis 1788 zurück. Als Anwältin ist es ihr tatsächlich gelungen, entsprechende Unterlagen, Chroniken, Belege etc. zu finden, zu deuten und in korrekte Zusammenhänge zu bringen. Eine Reihe von Fotos, die sich auch im Buch wiederfinden, hat sie dabei immer wieder auf Querverbindungen und neue Gesichtspunkte gestoßen.

Viele Mitglieder der Familie lebten in Innsbruck und auch das Café, welches den Buchtitel ergab, befand (und befindet sich) hier. Die Rezensentin hat dieses unter neuem Namen, jedoch mit Hinweis auf die Vorbesitzer über der Eingangstür versehene Restaurant nicht nur besucht, sondern auch viele andere Örtlichkeiten waren mir geläufig. Doch nicht nur dies machte die Spannung beim Lesen aus, sondern vor allem die Antwort auf zwei Fragen:

– Warum ist das Verhältnis des österreichischen Teils von Tirol zum italienischen so angespannt?

– Warum findet sich in Innsbrucker Museen kaum Material zur Zeit des Nationalsozialismus?

Versuche bei meinen vielfachen Aufenthalten in Österreich dazu etwas von Einheimischen zu erfahren, schlugen selbst bei jahrelangen guten Bekannten immer fehl. Das Buch liefert nun die lang ersehnten Antworten.

Zum einen beschreibt es die Ereignisse des Ersten Weltkriegs in Tirol (einem Kriegsschauplatz, der in der Regel wenig Beachtung findet) – mit dem Ergebnis des Gebietsverlusts eines Teils von Tirol, der damals wie heute schmerzt, zum anderen den Verlauf des Zweiten Weltkriegs, insbesondere den „Anschluss“ Österreichs an Deutschland, für den 99,37 Prozent der Innsbrucker stimmten (bei einer Beteiligung an dieser Volksabstimmung von 98,73 Prozent). Nur 288 Mutige stimmten mit „Nein“. Das habe die Österreicher jedoch später nicht gehindert, sich als erstes Opfer des Nationalsozialismus darzustellen. Dieses Opfernarrativ wäre größtenteils auch von den Alliierten akzeptiert wurden. Forderungen nach Wiedergutmachung, Rückgabe gestohlenen Eigentums bzw. Bestrafung der Beteiligten erfolgten nur zögerlich und unzureichend. Dies setze sich bis heute bei mangelnden bzw. diffus formulierten Gedenktafeln fort: So gäbe es kaum Informationen über das Lager Reichenau bei Innsbruck und die dort verstorbenen bzw. ermordeten jüdischen Deportierten werden als „Patrioten“ bezeichnet, die „hier den Tod fanden“.

Viele der dargestellten Fakten gewinnen gerade durch ihre Verbindung mit der Familiengeschichte der Schindlers, der Kafkas, der Dubskys und weiterer an Plastizität und Aussagekraft. Eine Besonderheit dieser Familiengeschichte ist dabei noch, dass der jüdische Arzt Dr. Eduard Bloch sowohl die Mutter Hitlers als auch diesen selbst als Kind behandelt hatte und dafür Dankesschreiben von diesem besaß. Das Verhältnis Dr. Blochs zu Hitler war daher ambivalent, einesteils protestierte er mehrfach gegen die Beschlagnahme dieser Souvenirs, andererseits gelang es ihm durch diese Verbindung, einigen seiner Glaubensgenossen zu helfen.

Eingebettet in diese Familiengeschichte sind außerdem interessante Details zum Bau der Eisenbahn in Tirol, zu Gepflogenheiten in Caféhäusern, zum Streit um die originale Sachertorte und anderes mehr Auch zur Entstehung und weiteren Entwicklung des österreichischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg gibt es jede Menge interessante Details: So hatten schon 1921 98,5 Prozent der Befragten in Tirol und Salzburg für einen „Anschluss“ gestimmt und so ihr Misstrauen gegen den neuen Staat zum Ausdruck gebracht. Auch Hitlers erster erfolgloser Auftritt in Innsbruck 1918 wird beschrieben und ausführlich auf die Entwicklung des österreichischen Ablegers der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei eingegangen.

In einem eigenen Abschnitt wird auf den jüdischen Nationalsozialisten Egon Dubsky, ein Cousin des Vaters der Autorin, eingegangen, in einem anderen auf die organisierte Fluchthilfe für jüdische Menschen mit Hilfe eines sogenannten Hausarbeitervisums vor allem nach England.

Das vorliegende Buch vermittelt Geschichte aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel – Tirol – gleichzeitig beschreibt es spannend die Schritte, Fundstücke, Unterstützerinnen auf dem Wege der Autorin zu ihrer Familiengeschichte.

Meriel Schindler: Café Schindler. Meine jüdische Familie, zwei Kriege und die Suche nach Wahrheit. Aus dem Englischen von Erica Fischer, Berlin Verlag, Berlin / München 2022, 478 Seiten, 26,00 Euro.