Nun war es nach mehr als vier Wochen seit den Wahlen am 11. September endlich geschafft: mit den länger als erwarteten Sondierungen und Verhandlungen über die Bildung einer Regierung im Lager der bürgerlichen Parteien und der neofaschistisch inspirierten Schwedendemokraten. Der Wahlsieg über die vorangegangene sozialdemokratische Regierung war äußerst knapp ausgefallen. Mit ihren mehr oder weniger gutmütig zu einem linken Spektrum zu zählenden Unterstützern in Gestalt von Linkspartei, Grünen und bäuerlicher Zentrumspartei war die landesweit mit 0,6 Prozent weniger Stimmen unterlegen. Drei Reichstagsmandate mehr – damit hat das rechte Lager nur ein höchst schmalbrüstiges parlamentarisches Übergewicht erzielt.
Die Auswirkungen auf die allen Erwartungen zum Trotz langwierigen Ergebnisse der Regierungsbildung waren unverkennbar. Der zunächst stattgefundene Positionsstreit von Schwedendemokraten einerseits und Liberaler Partei andererseits, welche Partei künftig ministrable Exponenten der Öffentlichkeit präsentieren könnte, hatte dazu mit beigetragen. Die Schwedendemokraten als stärkste Partei (mit 73 Sitzen) gegenüber ihren „gutbürgerlichen“ Konkurrenten in Gestalt von Moderater Sammlungspartei, Christdemokraten und Liberalen (mit 103 Sitzen) bestimmten maßgeblich die Tonlage der Verhandlungen um Posten und Macht in der Regierungskoalition. Dies zeigte sich in der Haltung des designierten Ministerpräsidenten Ulf Kristersson (Moderate), der sich mehrmals ausdrücklich gegenüber den im bürgerlichen Verständnis nicht ganz „stubenreinen“ ultrarechten Schwedendemokraten zu einem „respektvollen“ Umgang verpflichtet hatte. So konnte er schließlich am 18. Oktober vor dem Reichstag seine Regierungserklärung verlesen und seine Ministerliste präsentieren. Als bemerkenswert zeigte sich nicht nur die im Vergleich zur vorherigen Ministerriege der sozialdemokratischen Übergangsregierung gleich um drei neue angestiegene Anzahl der Ministerposten auf 24. Von diesen entfallen auf die Moderaten 13, die Christdemokraten sechs und die Liberalen fünf Politikressorts. Die Ressortverteilung gibt nicht nur zahlenmäßig, sondern auch auf den ersten Blick nach ihrem jeweiligen politischen Gewicht (Außenpolitik, Finanzen, Verteidigung u. a.) ein scheinbar klares Bild, wer den rechtskonservativen Ton und Klang der Regierungsmusik dominiert. Dennoch verdient die Tatsache besondere Aufmerksamkeit, dass die nach Wählerstimmen stärkste Partei in Gestalt der Schwedendemokraten keine Minister in dieser Regierungskoalition stellt, aber nichtsdestotrotz ausdrücklich am Zustandekommen dieser Koalition beteiligt und konstitutiver Bestandteil des Vier-Parteien-Abkommens ist.
Mit dem auf Schloss Tidö unterzeichneten Koalitionsabkommen (unter dem Titel „Übereinkunft für Schweden“) wurde die Zuerteilung des Vorsitzes von immerhin vier Parlamentsausschüssen für die Schwedendemokraten besiegelt. Zugleich wurde verankert, dass ihnen innerhalb des Regierungssitzes im Rosenbad-Gebäude eine Kanzlei zur unmittelbaren „Koordinierung“ und Abstimmung mit der Regierung eingeräumt wird. Im Verständnis des Vorsitzenden der Schwedendemokraten, Jimmy Åkesson, sei auch dies Ausdruck einer weiteren „Normalisierung der Stellung“ seiner Partei im politischen System des Landes.
Die Regierungserklärung Ulf Kristerssons kündigte neben den vielen unabdingbaren Pflichtformulierungen für die guten Absichten, die eine jede Regierung bei entsprechendem Amtsantritt zu deklarieren pflegt, in mancher Hinsicht einen doch ernst gemeinten Paradigmenwechsel an. In vielen Bereichen wäre das eine verschärfte Fortsetzung der ohnehin schon zuvor in der Tendenz nach rechts driftenden Politik der sozialdemokratischen Vorgängerregierung (und ihrer provisorischen Übergangsmannschaft). So z.B. wurden infolge der russischen Invasion in der Ukraine die Exportbestimmungen der bedeutsamen schwedischen Waffenindustrie erheblich gelockert. Das betrifft sogar deren bisherige Exportverbote wegen des antikurdischen Terrors in der Türkei. Auf Grund der Blockade Präsident Erdogans in der Frage einer schwedischen NATO-Mitgliedschaft wurden sie offensichtlich gänzlich aufgehoben. Darüber hinaus wurden in der Sicherheitspolitik die bilateralen Militärbeziehungen zu den USA durch einen weiteren Vertrag für eine praktisch ungehinderte Präsenz us-amerikanischer Truppen im Land Truppen vertieft.
Kristerssons Regierungserklärung steht unter dem wohlklingenden Motto „Freiheit und Verantwortung“, was aber im Verlauf seiner Rede in der Floskel „Der Staat kann schließlich nicht alles finanzieren“ eine Relativierung gefunden hatte. Wortreich wurden die Bezieher sozialer Unterstützungsmaßnahmen und Beihilfen des Staates auf Kürzungen eingestimmt, wobei allerdings die von den Moderaten beabsichtigte Kürzung des Arbeitslosengeldes durch den Widerstand der Schwedendemokraten abgewendet zu sein scheint. Der angesichts der massiven Inflation von mehr als zehn Prozent im Wahlkampf versprochene Schutz (bis spätestens zum 1. November) vor Höchstpreisen im Strom- und Treibstoffbereich hatte noch keine verpflichtende Berücksichtigung gefunden. Wohl aber die für landesweit mit unverkennbarem Erstaunen zur Kenntnis genommene Ankündigung, in Schweden die Kernkraftenergie in vergangenen Dimensionen wieder aufleben zu lassen. Immerhin war nach einer Volksabstimmung Ende der 1970er Jahre bis 2010 die Abschaltung aller Kernkraftwerke des Landes vorgesehen – was aber als Aufgabenstellung sowohl für die sozialdemokratischen als auch die bürgerlichen Regierungen der Vergangenheit in den politischen Schlafmodus versetzt werden konnte, kaum wohl ein Hinweis auf ein ideales Funktionieren schwedischer Demokratie. Einen geradezu politischen Schock hatte die Ankündigung ausgelöst, dass Schweden fortan nicht mehr zu der äußerst kleinen Gruppe von Ländern gehören werde, das bisher seit Jahrzehnten mit einem Prozent seines Bruttonationalproduktes zur Entwicklungshilfe in der „Dritten Welt“ beigetragen hat.
Mit Blick auf die extrem hohe Mordrate und Bandenkriminalität stehen überaus scharfe Restriktionen in der Migrations- und Kriminalpolitik (Reduzierung von Strafmündigkeit, rigorose Abschiebepraxis) sowie im Bereich der öffentlichen Ordnung durch aufgestockte Polizeikontingente und eine noch breitere Anwendung von Überwachungstechnik bevor. Keineswegs zu Unrecht fehlte in der Regierungserklärung das große Gewicht der Menschenrechtsdefizite in den internationalen Beziehungen. Adressaten der Kritik des neuen Premiers waren allerdings lediglich die Länder eines von ihm gegeißelten „diktatorischen Autoritatismus“, ohne wenigstens einen der gröbsten Verstöße in den „freiheitlich-demokratischen“ Staaten der EU (z.B. Spanien/Katalonien: Pudgemon und andere oder Großbritannien: Assange) zu erwähnen.
Man darf also auf dieses ungewöhnliche Konstrukt einer „Melange zu viert“ gespannt sein, das seine ersten konkreten Aufschlüsse bei der Einbringung des schwedischen Haushaltsbudgets Mitte November in den Reichstag erlauben wird. Mit schwedischen Augen gesehen, steht die Frage „Vem har vem vid koppeln? Herr eller husse?“ (Wer hat wen an der Leine? Der Herr den Hund? Oder umgekehrt?).
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