25. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2022

Schwedt – der Countdown läuft

von Gabriele Muthesius

Putins trojanisches Pferd.
DER SPIEGEL
über das PCK Schwedt

Das Petrolchemische Kombinat (PCK) Schwedt mit gut 3000 Beschäftigten, zu über 50 Prozent im Eigentum des russischen Staatskonzerns Rosneft und im Gefolge des Ukraine-Krieges derzeit unter treuhänderischer Verwaltung der deutschen Bundesnetzagentur – um den Betrieb der Raffinerie zu sichern (Bundeskanzler Olaf Scholz: eine „weitreichende energiepolitische Entscheidung zum Schutz unseres Landes“) –, hat bisher jährlich zwölf Millionen Tonnen ausschließlich russischen Rohöls verarbeitet, die über die sogenannte Druschba-Trasse angeliefert wurden und zum Teil noch werden. Das Rohöl dient vornehmlich zur Herstellung von 20 verschiedenen Kraftstoffqualitäten der Sorten Benzin, Diesel und Kerosin sowie von Heizöl. Damit wird der Bedarf der Wirtschaft, einschließlich des Großflughafens BER, und der Privathaushalte in Berlin und Brandenburg zu 90 Prozent gedeckt. Auch die Kraftstoff- und Heizölversorgung der anderen vier ostdeutschen Bundesländer hängt zu einem erheblichen Anteil an der Schwedter Produktion.

Die EU hat im Rahmen ihres Wirtschaftskrieges gegen Moskau als eine Antwort auf die russische Aggression gegen die Ukraine einen Importstopp für russisches Rohöl verhängt. „Dadurch werden bis Ende des Jahres rund 90 Prozent der Ölimporte aus Russland in die EU gestoppt“, erläuterte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Insbesondere auf Forderung Budapests ist Pipelineöl jedoch von diesem Embargo vorerst ausgenommen, so dass Ungarn, Tschechien und die Slowakei weiterhin Öl über die Druschba-Trasse beziehen können. Das könnte auch Deutschland, doch Sanktionsmusterschüler Berlin hat erklärt, von der Ausnahmeregelung keinen Gebrauch machen zu wollen und freiwillig komplett aus dem Bezug russischen Öls auszusteigen.

Im Klartext: Nach derzeitigem Stande sitzt das PCK Schwedt ab 1. Januar 2023 auf dem Trockenen – mindestens was russisches Rohöl anbetrifft. Ab wann das für die Endkunden der Schwedter Produktion ebenfalls der Fall sein könnte und welche Folgen die absehbare Verknappung auf die sowieso schon exorbitant gestiegenen Kraftstoff- und Heizölpreise sowie damit auf eine weitere Erhöhung der Inflation haben wird, sind derzeit offene Fragen. Nicht zuletzt, weil es sich als ausgesprochen schwierig erweist, im Hinblick auf belastbare Informationen über die Zukunft der Produktion in Schwedt überhaupt fündig zu werden. Die politisch handelnden und verantwortlichen Akteure auf deutscher Seite üben sich unisono in vornehmer Zurückhaltung, was klare und konkrete öffentliche Aussagen anbetrifft. Eine „Gemeinsame Erklärung zur Zukunft des Standorts Schwedt“ des Bundes und des Landes Brandenburg vom 16. September 2022 geht über Allgemeinplätze und Absichtserklärungen auch nicht hinaus. Und nachdrückliches Nachbohren kritischer Medien? Ebenfalls Fehlanzeige. Was allerdings beim seit über 30 Jahren anhaltenden allgemeinen Desinteresse der Westmedien an den vitalen Problemen der Ostländer nun nicht wirklich verwundert.

Zum PCK zu vernehmen ist allerdings, dass mit etwa 75-prozentiger künftiger Auslastung von Schwedt die Gefahr gravierender Versorgungseinbrüche vermeidbar sein soll. Das würde statt bisher zwölf künftig wenigstens neun Millionen Tonnen Rohöl jährlich erfordern. Sechs Millionen davon könnten, so Experten, via Rostocker Hafen über eine vorhandene Pipeline nach Schwedt geschafft werden und die restlichen drei Millionen über einen weiteren bestehenden Strang, der im Ölhafen von Danzig (jährliche Umschlagskapazität: 36 Millionen Tonnen) beginnt und im zentralpolnischen Płock an die Druschba-Trasse andockt.

Diese scheinbare Alternative hat jedoch gleich mehrere Haken, von denen derzeit nicht schlüssig zu ermitteln ist, ob und wenn ja welche Lösungsmöglichkeiten es dafür gibt und wer damit eigentlich auf welcher Verantwortungsebene zielführend befasst ist.

Haken eins – die Pipeline von Rostock nach Schwedt (1969 ursprünglich für einen Durchlass von drei Millionen Tonnen in Betrieb genommen; Länge: 200 Kilometer; Trassenverlauf, teilweise unterirdisch) muss für eine stetige Durchlassmenge von sechs Millionen Tonnen jährlich grundlegend „ertüchtigt“ werden, wie das im Expertenjargon ausgedrückt wird, wenn die direkte Aussage vermieden werden soll, dass die aktuelle Kapazität erheblich darunterliegt. Die Ertüchtigung werde, so Anfang Oktober 2022 – laut Presseberichten – der Brandenburgische Wirtschaftsminister Jörg Steinbach (SPD), „einen Zeitraum von zweieinhalb bis drei Jahren benötigen“.

Haken zwei – die polnische Seite hat offen zu verstehen gegeben, dass Rohöllieferungen nach Schwedt via Danzig so lange nicht infrage kämen, wie noch russische Eigentumsrechte an der deutschen Raffinerie beständen. Dass diese Haltung damit zusammenhängt, dass der größte polnische Ölkonzern Orlen, der Staat ist Anteilseigner, Interesse an einem Einstieg in Schwedt und der Übernahme der Rosneft-Anteile hat, liegt so sehr auf der Hand, dass die Spatzen es gar nicht mehr von den Dächern pfeifen müssen. Die polnischerseits quasi verlangte vollständige Enteignung der russischen Rechte am PCK durch Berlin wäre ein höchst zweischneidiges Schwert, da genügend schwergewichtiges deutsches Eigentum in Russland besteht, mit dessen Enteignung Moskau antworten könnte.

Haken drei – die Anlagen der Raffinerie in Schwedt sind technisch auf schweres russisches Rohöl ausgelegt, das nicht beliebig zu substituieren ist. Je nach Schwefelgehalt etwa wird nach leichtem und schwerem, süßem und saurem Öl unterschieden. Müssten die Schwedter Anlagen auf einen grundlegend anderen Öltypus umgestellt werden, wäre zuvor technisch entsprechend umzurüsten. Dauer: mindestens mehrere Monate. Stand: unklar. Ein dem russischen in seiner Zusammensetzung ähnliches Rohöl wird in Venezuela gefördert, unterliegt allerdings einem US-Embargo. Ob Washington eine dauerhafte Ausnahme zugunsten Deutschlands gestatten würde, wollten Berlins Diplomaten Medienberichten zufolge im Sommer 2022 eruieren. Stand: unklar. Mit ,,White Eagle Blend“ stände auch eine in den USA speziell für Raffinerien in Mittelost- und Osteuropa entwickelte Öl-Mischung zur Verfügung, die in ihren Parametern dem schweren Ural-Öl gleicht. Das erste US-Rohöl dieses Typs soll bereits 2020 von dem bei Houston/Texas gelegenen Terminal Beaumont mit Bestimmungsort Ölhafen Danzig umgeschlagen worden sein. Erstmals US-Rohöl für Schwedt soll, so ein Bericht des Senders ntv, Anfang August in Rostock angelandet worden sein. Stand insgesamt jedoch: derzeit ebenfalls unklar.

Last but not least: Haken vier – der Information eines Insiders aus dem Bereich der Brandenburger Landesregierung zufolge war mit Stand von Ende September 2022 von den erforderlichen neun Millionen Tonnen Alternativöl für Schwedt noch keine einzige liefervertraglich überhaupt gebunden.

Vor diesem Hintergrund könnte sich, sollte die Bundesregierung bei ihrem freiwilligen Ausstieg aus dem Import russischen Rohöls zum 31. Dezember dieses Jahres bleiben, die von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck in infantilem deutschen Politiker-Neusprech – in dem sind 100 Milliarden Euro neue Staatsschulden für die Bundeswehr bekanntlich ein „Wumms“ und noch höhere Ausgaben für andere Zwecke folglich ein „Doppel-Wumms“ – vorgetragene Formulierung, es könne nach dem Importstopp in Deutschlands Osten versorgungsmäßig „etwas rumplig“ werden, zur Untertreibung des Jahrzehnts mausern. Der Countdown jedenfalls läuft, und in der Beschreibung der absehbaren Richtung ist dem Ostbeauftragten der Linksfraktion im Bundestag, Sören Pellmann, Schwarzmalerei schwerlich vorzuwerfen: „Wir werden im Winter Spritpreise in Richtung drei Euro erleben, wenn überhaupt die Versorgung gesichert ist. Diese verfehlte Politik der Ampel müssen die kleinen Leute in Ostdeutschland bezahlen.“ Und die gesamte ostdeutsche Wirtschaft gleich mit …