25. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2022

Rund ums Leipziger Bildermuseum

von Jürgen Hauschke

An einem sonnigen Wochenende im Oktober zieht es uns in die nach Berlin größte Stadt im Osten Deutschlands. Das Hauptziel ist das Museum der bildenden Künste. Doch Leipzig bietet viel Sehenswertes und auch Hörenswertes, also werden notgedrungen wenige Rosinen herausgepickt.

Die Sonne strahlt und für den folgenden Tag werden Regenwolken vorausgesehen. Deshalb geht es zu Fuss vom Hotel zunächst in den Leipziger Zoo. Dort empfängt das aus Film und Fernsehen bekannte Eingangstor in den „Zoolog. Garten“ mit dem über der Inschrift thronenden Löwenkopf. Das erstaunlich weitläufige Zoogelände nördlich der Innenstadt ist voller freudiger Besucher. Zeitweise scheint es, als seien mehr Kinder als Tiere im Zoo. Vor dem 2011 eröffneten Gondwanaland reichen die Parkplätze für die neu ankommenden Kinder- und Bollerwagen nicht mehr aus. Die größte Tropenhalle Europas ist etwa 35 Meter hoch und nach dem Urkontinent benannt. Sie umfasst mehr als 16.500 Quadratmeter. Zu sehen sind in Afrika, Asien und Südamerika beheimatete Tiere in üppiger Pflanzenwelt. Umgeben von feuchtwarmer Luft folgt eine beeindruckende Bootsfahrt auf einem 390 Meter langen „Urfluss“.

Als Nächstes folgt ein Besuch der innerstädtischen Nikolaikirche. Am Altar fällt sofort ein großes Transparent ins Auge: „Micha: Schwerter zu Pflugscharen. Jeden Montag 17 Uhr Friedensgebet in St. Nikolai.“ Das Logo der Friedensbewegung in der DDR bleibt hier an einem Ausgangspunkt der „Friedlichen Revolution“ aktuell. Auf dem Weg zu einer Motette in Bachs Thomaskirche geht es durch die Leipziger Passagen. Viele sind in den neunziger Jahren stilvoll saniert worden. Sie erinnern besonders an Leipzigs Tradition als Messestadt. Neben der Mädlerpassage hat vor allem der Speckshof mit der ältesten erhaltenen Ladenpassage beeindruckt. Benannt wurde der Hof nach Maximilian Speck von Sternburg, der dort im 19. Jahrhundert ein Haus errichten ließ. Speck begründete auch eine umfangreiche Kunstsammlung. Er erwarb Gemälde deutscher, niederländischer, italienischer, französischer und spanischer Meister auf seinen Reisen.

Als einer der Mitbegründer des Leipziger Kunstvereins führt uns Speck direkt zum „Museum der bildenden Künste Leipzig“ (MdbK) oder zum Bildermuseum, wie die Leipziger es nennen. 1848 gegründet, war das Museum von Anfang an ein städtisches Museum, das in seiner Geschichte immer wieder durch bedeutende Schenkungen und Stiftungen erweitert wurde. Dazu gehören unter anderen die Maximilian Speck von Sternburg Stiftung und die Sammlung Bühler-Brockhaus. Aktuell ist bis zum 15. Januar 2023 aus der letzteren eine Sonderausstellung zu Rosa Bonheur und zu frühimpressionistischen Werken Frankreichs zu sehen.

Die Eröffnung des neuen quaderförmigen Museumsbaus erfolgte 2004 nach diversen jahrzehntelangen Interimslösungen. Ein eigener Museumsbau fehlte. In der Innenstadt am Brühl gelegen, beherbergt das Museum eine der größten und vielfältigsten Kunstsammlungen Deutschlands. Einzigartig ist die im dritten Obergeschoss gezeigte Ausstellung von Malerei und Plastik des 20. und 21. Jahrhunderts aus Leipzig. Zu betrachten sind mehr als 200 Werke Leipziger Künstler. Mit über 500 Werken sind Künstler aus der DDR zu entdecken. Neben der Berliner, Dresdner und Hallenser Kunst bildet jedoch die Leipziger Malerei das eigentliche Zentrum. Zu sehen sind Werke der „älteren“ Leipziger Schule mit Malern wie Bernhard Heisig, Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer, aber auch größere Bestände der jüngeren Malergeneration wie Neo Rauch und Daniel Richter. Weitere Leipziger nehmen einen großen Raum ein: Im ersten Obergeschoss werden Großplastiken Max Klingers präsentiert. Ein großer Saal zeigt Werke Max Beckmanns.

Heisigs „Lernende Jugend (1952) und Tübkes „Sozialistische Jugendbrigade“ (1964) wirken aus der heutigen Zeit gefallen. Günter Glombitzas „Junges Paar“ (1970) hing als Reproduktion in vielen Wohnzimmern der DDR. Sehenswert sind die Bilder aus den 1970er Jahren: Mattheuer „Kuss im Kahn“ (1976), Andreas Deckardt „Abend“ (1979), Irene Kiele „Haltestelle bei Borna“ (1979/80), Uwe Pfeifer „Höhenflug“ (1978), Heisig „Ikarus – Schwierigkeiten beim Suchen nach der Wahrheit“ und Hans-Hendrik Grimmling „Ich in Leipzig“ (1978). Sie zeigen in sehr unterschiedlicher Gestaltung die Auseinandersetzung der Maler mit der teilweise tristen Lebenswirklichkeit im realen Sozialismus und der Suche nach neuen Wegen. Ein Höhepunkt ist sicher Mattheuers „Hinter den sieben Bergen“ (1973). Am Horizont sehen wir eine Frau mit bunten Luftballons. Autos und Mopeds fahren ihr auf einer breiten Straße über sieben Berge entgegen. Auf vier Straßenschildern entdeckt der Betrachter bei genauem Blick aufs Bild die Buchstaben: EI-A-PO-PEIA. Es gibt übrigens eine neue Fassung von 1993, jedoch nicht in Leipzig: „Hinter den 7×7 Bergen“, darauf sind drei Frauen mit bunten Luftballons und noch mehr Berge und Meer zu sehen. Aus den achtziger Jahren besticht Norbert Wagenbrett mit dem Bild „Mädchen auf der Straße“ (1987). Von der „Neuen Leipziger Schule“ ist vor allem Neo Rauch mit großformatigen Bildern ausgestellt: „Grotte“ (2004), „Fastnacht“ und „Unter Feuer“ (beide 2010).

Das Museum wirbt zu Recht auch mit Gemälden von Lucas Cranach dem Älteren, Peter Paul Rubens, Caspar David Friedrich und Frans Hals um Besucher. Bei der Betrachtung des bekannten Porträts „Der Mulatte“ , um 1628 von Frans Hals gemalt, stutzten wir, als wir die neue Benennung des weltbekannten Bildes lasen: „Peekelhaering (Der lustige Zecher)“. Der Niederländer Hals war einer der bedeutendsten Porträtmaler. Warum seit 2019 sein fast vierhundert Jahre altes Bild nunmehr „Pökelhering“ heißt, bleibt nebulös. Peekelhaering ist die dem deutschen Hanswurst entsprechende Figur des niederländischen Volkstheaters. Weder direkt im Museum noch in der Internetpräsenz findet sich ein Hinweis auf die Umbenennung. Die schriftliche Frage per E-Mail nach den Gründen bringt nach einigen Tagen Antworten: Hals porträtiert einen Schauspieler, der einen solchen „Peeckelhaering“ verkörpert und zwar als Schwarzen (daher die von Wilhelm von Bode, dem damaligen Direktor der Berliner Gemäldegalerie, eingeführte Bezeichnung als „Mulatte“). Die jüngere Forschung habe jedoch feststellen können, dass der auf dem Bild dargestellte Trinker nicht wirklich schwarz, sondern ein schwarz geschminkter Schauspieler sei. Daher sieht man am Hals auch noch das helle Inkarnat. Insofern sei es nicht korrekt, den Dargestellten als Mulatten anzusprechen. Bildtitel werden im Laufe der Jahre mitunter Änderungen unterzogen, besonders, wenn man neueren Forschungen Rechnung tragen möchte. Bereits 1631 wurde in Haarlem ein Gemälde als „peeckelharing van Frans Hals“ versteigert, weswegen diese Bezeichnung sogar jener entspricht, die im 17. Jahrhundert für ein ähnliches Sujet von Hals gebräuchlich war. Natürlich ist der Begriff „Mulatte“ im heutigen Sprachgebrauch nicht benutzbar wegen seiner jetzigen pejorativen Konnotation und ebenso sind die kunstwissenschaftlichen Forschungsergebnisse zum Gemälde zu berücksichtigen. Muss deshalb aber klammheimlich der bisherige Gemäldetitel aus der Historie entsorgt werden? Die Leipziger Museumsleitung will, wie jetzt zu erfahren ist, den Online-Auftritt der Sammlung überarbeiten, entsprechende Informationen zu dem wichtigen Gemälde von Frans Hals sollen abrufbar sein. Die sächsischen Kollegen der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden sind da etwas weiter. Bereits 2021 veröffentlichten sie wenigstens einen Hinweis „Zur sprachlichen Überarbeitung von Kunstwerken“. Über 200 Werktitel wurden in der Datenbank verändert, aber es wird auf die historischen Titel verwiesen.

Nach dem Wermutstropfen im Bildermuseum fehlt es an frischer Luft. Die Sonne scheint unerwartet auch am zweiten Besuchstag. Bis zur Rückfahrt im ICE nach Berlin ist noch genügend Zeit, mit dem Fahrstuhl auf den höchsten Aussichtspunkt in Leipzig zu fahren: Der „Panorama Tower“ war früher als Uniriese oder Weisheitszahn bekannt. Auf der Aussichtsplattform bietet sich ein hervorragender Rundumblick auf all das, was zu besuchen versäumt wurde.