Vor gut 30 Jahren im Februar 1992 gesteht der chinesische Reformarchitekt Deng Xiaoping auf einer inzwischen berühmten „Reise in den Süden“ des Landes seinen Landsleuten zu, durch eigener Arbeit Fleiß zu Geld und Vermögen zu kommen. Auch wenn dies zunächst nur für einen Teil der Menschen gelten könne, traf er zur damaligen Zeit mit seiner Aussage den Nerv der meisten Chinesen. Denn sie hatten genug von politischen Experimenten, von ideologischen Auseinandersetzungen; sie wollten endlich der blauen und olivgrünen Einheitskleidung den Rücken kehren, sich sattessen, eigene Wohnungen besitzen, ungehindert reisen, sich entfalten, sich anstrengen zum eigenen und zum Wohl der Familie, und natürlich wollte jeder zu den ersten „Zehntausend“ reichen Chinesen gehören, wie von Deng zunächst versprochen.
Die Reise von Deng gab den Anstoß zu einem beispiellosen Aufschwung in der Wirtschaft des Landes; sie wuchs bis in die ersten Jahre dieses Jahrhunderts jährlich zweistellig. Unterstützt wurde diese Entwicklung durch ausländisches Kapital und Technologie. Fast alle internationalen Unternehmen erschlossen sich den chinesischen Markt über weitreichende Investitionen und vielfältige Kooperationsformen. Mit der Wirtschaft wuchs der Reichtum, und viele Menschen aus ehemals armen Verhältnissen kamen zu bis dato unvorstellbarem Vermögen. Einflussreiche Firmen, insbesondere aus dem Tech- und Finanzbereich, drängten an die internationalen Börsen und auf den internationalen Markt. Nirgendwo auf der Welt wuchs die Zahl von Millionären und Milliardären so rasant wie in China.
Meine chinesische Freundin Jun ist Ende der 1970er Jahre in einer chinesischen Intellektuellenfamilie geboren worden und hat in der Großstadt die rasante Öffnung und Reform des Landes erlebt. Ausländische Unternehmen kamen ins Land, übernahmen Firmen, gründeten Lehreinrichtungen, waren im Straßenbild zunehmend sichtbar. Mit ihnen kamen auch neue Lebensweisen, Ansichten und Werte. Internationale Dialogformen und Partnerschaften, die so gut wie alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfassten, entstanden. Jun fand diese Entwicklung von Anfang an spannend und studierte Soziologie und Pädagogik zuerst in China, danach in Deutschland. Gerade der Austausch zwischen Ost und West fesselte sie, und sie formulierte zu ihrem Forschungsthema Erwartungshaltungen, Wünsche und Vorurteile von Menschen in China und Deutschland im Verhältnis zueinander. Sie findet es immer noch wichtig, dass miteinander gesprochen wird, vorurteilsfrei und offen über ein konstruktives Füreinander gerungen wird.
Die Deng angestoßene Reform und Öffnung, so meine Freundin Jun, führte weitestgehend zu einer ideologiefreien Wirtschafts- und Handelspolitik im Inland wie auch mit dem Ausland. Gesetze, Regelungen hielten Einzug in die Gesellschaft, die zunehmend bunter wurde – und das betraf nicht allein nur die Kleidung der Menschen. Auch die Versorgung in den Läden wurde vielfältiger; private Märkte hielten ein reichhaltiges Angebot bereit, „bunte“ Zeitungen über die „eigenen“ Stars und Sternchen, Lifestyle und Mode bereicherten die Kioske. Ideologie und Politik verschwanden weitestgehend aus dem Alltag der Menschen. Privates Glück, persönliches Wohlergehen, eine gut bezahlte Arbeit, die den Kauf einer eigenen Wohnung, die Ausbildung der Kinder, möglichst an einer privaten Einrichtung sowie die Vorsorge für eventuelle Krankheiten und das Alter sichert, bestimmten nun das Denken und Handeln der Menschen im Land. Wenn dann alles geregelt war, erfüllten sich vor allem junge Chinesen immer öfter den Traum vom eigenen Auto, einem Urlaub im Ausland und von Shoppingtouren in den Outlet-Centern dieser Welt. Die Mittelschicht in den Städten wuchs rasant in den letzten Jahren und wird derzeit auf 400–500 Millionen Menschen beziffert.
Doch während in den urbanen Ballungsgebieten und in den industrialisierten Küstenregionen der Wohlstand ungebremst zunimmt, trifft dies weiterhin „nur“ auf ein Drittel der Bevölkerung zu. Trotz massiver Maßnahmen zur Armutsbekämpfung durch die Zentralregierung – immerhin konnten gut 800 Millionen Menschen aus der unmittelbaren Armut befreit werden – warten gut eine Milliarde Chinesen auch dreißig Jahre nach Dengs Reise auf ihre Chance der unmittelbaren Teilhabe an seiner Reform- und Öffnungspolitik. Es sind vor allem die Hundert Millionen Bauern, die sich als Wanderarbeiter auf Dengs Versprechen hin in den Städten verdingen und für den Reichtum der Städter sorgen, ohne dass es ihnen gelingt, am Wohlstand ausreichend partizipieren zu können. Auch Jun gibt zu, dass sie sich kaum mit dem Leben der Wanderarbeiter in ihrer Umgebung beschäftigt hat. Sie waren eben auf einmal in den Städten und übernahmen all die Arbeiten, die dreckig, unangenehm und kräftezehrend sind. Auch sie habe sich schnell an den „Luxus“ gewöhnt, dass die Läden und Imbissbuden rund um die Uhr geöffnet haben, dass Serviceeinrichtungen ohne Termin und auch an den Wochenenden bereitwillig Kunden empfangen. Auch wenn ihre Freundinnen immer wieder die Nase über die ungehobelten Bauern rümpften, ohne sie würde die Stadtgesellschaft schon lange nicht mehr funktionieren, erkennt auch Jun an.
Und während in den Städten mit dem Auf- und Ausbau von kommunalen Einrichtungen die Entwicklung eines städtischen Bewusstseins einherging, blieben die Wanderarbeiter in ihren traditionellen Denk- und Verhaltensweisen der Agrargesellschaft vielfach unter sich. Auch durch das seit den 1950er Jahren bestehende Bürger-Meldesystem, das Städter gegenüber Landbewohnern privilegiert, fühlen sich die Wanderarbeiter und ihre Familien oftmals weiterhin als Bürger zweiter Klasse. Allerdings, der Wunsch dazuzugehören und am „großen Wohlstandskuchen“ der schnellen Wirtschaftsentwicklung zu partizipieren, ist stark und nimmt stetig zu. Und so kommt es eben dazu, dass gern Amt und Position missbraucht werden, dass immer wieder der alten „Tradition“ verfallen wird, sich mit gut gefüllten „roten Täschchen“ den Weg zum Aufstieg schneller zu verschaffen, was mit Leistung und Mühe nur langsam, möglicherweise auch gar nicht zu erreichen ist. Immer wieder kommt es zu lokalen Aufständen, brutalen Übergriffen, werden vor allem Frauen und Kinder entführt, Angst und Unsicherheit verbreitet.
Jun lebt seit Beendigung ihres Studiums in Deutschland, hat eine Familie gegründet, eine Wohnung gekauft. Der Plan war, in den Ferien immer wieder nach Hause zu den Eltern und Freunden zu fliegen. Dann kam die Pandemie und alles änderte sich von einem zum anderen Tag. Seit 2019 war sie nicht mehr in China und hält nur über die modernen Kommunikationsmittel Kontakt. Sie erfährt aus der Heimat immer öfter, dass in den letzten Jahren der Druck auf die Gesellschaft in den Städten wächst, die soziale Unsicherheit zunimmt. Für Jun fehlt auch das internationale Korrektiv und sie zeigt sich sehr besorgt. Isolierung und Abschottung von der Außenwelt seien fatal für ihr Land. Das weiß sie aus den Erzählungen der Eltern. China brauche unbedingt den Kontakt mit der Außenwelt, den Austausch vor allem unter jungen Menschen. Die vielen internationalen Unternehmen und Einrichtungen im Land, ihre Art des Wirtschaftens und Handelns führen zum Verständnis und Vertrauen in Regelungen und Gesetze, der Dialog zur Rechtsstaatlichkeit zwischen den Justizorganen – all das ist wichtig, um nicht alte tradierte Verhaltensweisen und archaische Verhältnisse wieder aufleben zu lassen.
Auch wenn sie zunächst die Null-Covid-Politik „ihrer“ Regierung befürwortete, inzwischen befürchtet Jun, dass sie massiv der Wirtschaft und Gesellschaft zusetzt. Vor allem die immer wieder kurzfristigen und aus ihrer Sicht auch willkürlichen Schließungen von Stadtteilen, Städten, ja ganzer Regionen verunsichern zunehmend die Bevölkerung. Unterbrochene Lieferketten, fehlendes Personal in den Unternehmen, auf den Baustellen machen das reibungslose Produzieren und Wirtschaften im Land schwierig. Reiche Chinesen mit gültigen Pässen setzen sich ins Ausland ab. Ausländische Experten verlassen das Land. Und das Interesse und der Wunsch nach Fortführung des bisherigen Business werden den Menschen im In- wie Ausland nicht leicht gemacht. Außergewöhnlich hohe Flugkosten, gedrosselter Flugverkehr, eingeschränkte Visavergabe, willkürliche Quarantäneregeln halten derzeit eher ab, sich mit China zu beschäftigen. Auch Jun fühlt sich in Deutschland inzwischen wie in einer Diaspora und spürt die wachsende Ablehnung in ihrer Umgebung.
Dass Präsident Xi mit seiner Politik des „Wohlstandes für alle“ sozialen Ausgleich schaffen und den wachsenden Unfrieden im Land bekämpfen will, begrüßt Jun. Er würde sich die „Superreichen“ im Land „zur Brust“ nehmen und sie einschwören auf „Charity und soziales Mitgefühl“. Den großen Techfirmen im Land, die mit ihrem Geschäft den Einfluss in der Gesellschaft sukzessive ausbauen, gehe er zu „Leibe“ und sie „verschwänden“ von einem zum anderen Tag aus den aktuellen Nachrichten. Auf diese Weise wolle er die Gesellschaft stabil und gerecht gestalten, erklärt mir Jun. Gleichzeitig sorgt sie sich, dass diese Entwicklung zu Lasten der einst von Deng eingeleiteten Öffnung gehen kann und hofft sehr, dass die „Brücken“ mit der Außenwelt der derzeitigen Situation standhalten.
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