25. Jahrgang | Nummer 21 | 10. Oktober 2022

Das wunderliche Wunderkind

von Mathias Iven

Seine Ehe mit der Schauspielerin Minna Planer war kinderlos geblieben. Nach mehr als einem Vierteljahrhundert hatte sich Richard Wagner endgültig von ihr getrennt. Die neue Frau an seiner Seite war die 24 Jahre jüngere Cosima von Bülow. Dass sie, die Tochter von Franz Liszt, bereits verheiratet war und zwei Kinder hatte, störte Wagner nur wenig. Im November 1863 gestanden sie sich ihre Liebe. „Unter Tränen und Schluchzen“, so formulierte es Wagner Jahre später in seiner Autobiographie, „besiegelten wir das Bekenntnis, uns einzig gegenseitig anzugehören.“

Ihre Beziehung blieb nicht ohne Folgen. Am Morgen des 10. April 1865 wurde in München ihr erstes Kind geboren: Isolde Josepha Ludovika. Um den äußeren Schein zu wahren, schließlich war Cosima noch verheiratet, galt sie offiziell als Hans von Bülows Tochter. So geschah es auch bei der Geburt von Eva (1867), der späteren Frau von Houston Stewart Chamberlain. Erst im Juli 1870, gut ein Jahr nachdem der „Stammhalter“ Siegfried zur Welt gekommen war, wurde die Ehe der Bülows geschieden. Nur fünf Wochen darauf traten Richard und Cosima vor den Altar der protestantischen Kirche von Luzern.

Die Musikwissenschaftlerin und Wagner-Kennerin Eva Rieger, die unter anderem 2012 eine beeindruckende Biographie von Wagners „rebellischer“ Enkelin Friedelind vorgelegt hat, zeichnet in ihrem neuen Buch nicht nur den Lebensweg von Isolde nach, „die um 1900 die besten Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben hatte und dennoch an dem Machtkampf zwischen Ehemann, Bruder und Mutter zugrunde ging“. Zugleich wird die damit einhergehende, für die Bayreuther Festspiele bedeutsame und äußerst wechselvolle Geschichte von Isoldes Ehemann Franz Philipp Beidler präsentiert, dessen Nachlass Rieger erstmals in seiner Gesamtheit auswerten konnte.

Isolde war nicht nur die Lieblingstochter ihrer Eltern, die viel von deren Genialität geerbt hatte. Für den Vater war sie ein „wunderliches Wunderkind“, ihre Mutter sah in ihr „eine dämonische Natur“. Sie entwarf Theaterkostüme, malte, dichtete und komponierte, improvisierte auf dem Klavier und sang mit ihrem „hellen starken Sopran“, wie sich ihre Schwester erinnerte. Malwida von Meysenbug, eine Freundin der Familie, schrieb über sie: „Die kleine Egoistin der Familie ging ihren eigenen Weg, kümmerte sich um nichts außer um sich selbst, machte sich keine Sorgen, dachte nur an Lachen und Vergnügen und war im übrigen ein kleiner Spaßvogel.“ Unweigerlich geriet sie so in Konflikt mit ihrer strengen Mutter.

Kurz vor dem 18. Geburtstag starb ihr Vater. Wagners Tod veränderte schlagartig die Lage der Familie. Wie sollte es weitergehen? Was würde aus Bayreuth werden? Monate vergingen, Cosima trauerte und begann an dem Bild zu arbeiten, das die Nachwelt von Wagner erhalten sollte. Überredet von ihren Kindern übernahm sie 1884 zunächst die Regie für den „Parsifal“ und machte schließlich die Weiterführung der Festspiele zu ihrem Lebensziel, dem sich alles andere unterzuordnen hatte. Zukünftig drehte sich somit auch Isoldes Leben in erster Linie um das Geschehen auf dem Grünen Hügel.

Lange Jahre war Cosima davon überzeugt, so resümiert Rieger anhand der überlieferten Korrespondenz, dass Isolde ledig bleiben würde, denn nur so „könnte sie die weltanschaulichen Ideen des ,Meisters‘ vertreten, die er in Wort und Ton niedergelegt hatte“. In einem vermutlich aus dem Jahre 1897 stammenden Brief schrieb sie ihrer Tochter: „Ich weiß es, daß auch Du in Wahnfried einzig frei athmest.“ Und weiter hieß es: „Von unsrem Kloster aus wirst auch Du aber Dein Leben Dir bauen, und das wird ein schönes, reines, edles, friedenfreudiges Leben sein, wie Du selbst bist.“

Doch Cosima hatte nicht mit Isoldes Widerstandsgeist gerechnet. Bereits 1894, unmittelbar nach seiner Anstellung als musikalischer Assistent bei den Festspielen, hatte diese den angehenden Dirigenten Franz Beidler kennen gelernt. Der im Schweizerischen Aargau geborene Musiker, der nicht nur ein ausgezeichneter Pianist war, sondern auch ein bekennender Liszt- und Wagnerverehrer, begleitete sie seither oft bei ihren Gesangsübungen am Flügel. Im Herbst 1900 kamen sich Isolde und der sieben Jahre jüngere Mann näher. Cosima war überrascht, als sich das Paar öffentlich zueinander bekannte. Nach außen hin wirkte sie zwar gefasst und war bemüht, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Isolde spürte jedoch, dass Cosima an der Verbindung zweifelte.

Die Entwicklung der folgenden Jahre lässt sich mit Eva Rieger in einem Satz zusammenfassen: „Beidlers Nähe zur Wagnerfamilie [war] Segen und Fluch zugleich.“ Cosimas Kritik an seiner Tätigkeit für Bayreuth wurde immer massiver und sie tat alles, um ihren Schwiegersohn aus Bayreuth zu entfernen. Zwei Dokumente ihres schriftlichen Schlagabtausches sprechen eine deutliche Sprache. Cosima an Beidler am 2. August 1902: „Als Dein Vorgesetzter sehe ich Dir das Unbotmäßige Deines Benehmens nach, gebe Dich frei u. erwarte Dich nicht mehr auf unserem Hügel, weder zu Arbeit, noch zu Genuß, noch zu Beurtheilung.“ Beidlers Antwort darauf: „Dass man dahin, wo einem die Türe gewiesen wurde, den Weg nicht leicht wiederfindet, wirst Du begreifen. Daher brauche ich es Dir wohl kaum zu sagen, dass ich es noch nicht über mich bringen kann, das Festspielhaus wieder zu betreten, weder zur Arbeit noch zum Genuss, noch zur Beurteilung.“ Halt fand Beidler in dieser Situation einzig bei Isolde. In einem Brief vom 9. November 1903 schrieb er an sie: „Dir vertraue ich! Den Wahnfriedlern, um es kurz zusammenzufassen: nicht!“

Als Isolde am 7. Februar 1919 starb, waren die innerfamiliären Auseinandersetzungen zwar gerichtlich geklärt, die Streitigkeiten gingen jedoch weiter – bis heute werfen sie einen Schatten auf die Nachkommen. Franz Beidler, der 1922 noch einmal heiratete und in seinen letzten Jahren als Kaufmann tätig war, wurde im Januar 1930 zu Grabe getragen, nur wenige Monate vor Cosima und deren Sohn Siegfried.

Ein lesens- und empfehlenswertes Buch nicht nur für Wagnerianer. Einmal mehr wird hinter die Kulissen der Bayreuther Festspiele und des Wagner-Clans geschaut.

Eva Rieger: Isolde – Richard Wagners Tochter. Eine unversöhnliche Familiengeschichte, Insel Verlag, Berlin 2022, 347 Seiten, 26,00 Euro.