25. Jahrgang | Nummer 19 | 12. September 2022

Endlich wieder Festivalvielfalt – Haldern Pop 2022

von Wolfgang Hochwald

Man spürte den Besuchern des Haldern Pop Festivals die Erleichterung an, endlich wieder ein reguläres Festival besuchen zu können. Dabei ist „Haldern“ mit viel Fantasie über die Coronazeit gekommen. Im Jahr 2020 produzierte man zusammen mit dem irländischen Other Voices Festival einen 90-minütigen Live-Stream aus den beiden örtlichen Kirchen. Höhepunkt war der Auftritt der irischen Singer-Songwriterin Lisa Hannigan in Dingle, begleitet vom Orchester „Stargaze“ in Haldern. Die britische experimentelle Newcomerband „Black Country, New Road“ war so angetan von ihrem Auftritt und der Gastfreundschaft des Dorfes in Coronazeiten, dass sie auf ihrem 2022er Album einen Song mit dem Titel „Haldern“ veröffentlichte.

Im August 2021 trug der musikalische Leiter Stefan Reichmann den Corona-Beschränkungen auf besonders kreative Weise Rechnung: drei Tage lang fanden Konzerte auf dem Marktplatz und im Rahmen von Wanderungen und Fahrradtouren statt. Je 100 Wanderer und Radfahrer waren in coronagerechten 10er-Gruppen unterwegs und trafen sich zu insgesamt vier Konzerten auf einer großen Wiese, auf einer Pferdekoppel und zwischen Apfelbäumen. Da konnte es schon mal sein, dass der Auftritt eines Sängers vom Blöken der Ziegen untermalt wurde.

In diesem August konnten die Festivalmacher wieder aus dem Vollen schöpfen und wie gewohnt ein Schatzkästchen an musikalischen Gegensätzen und Entdeckungen zusammenstellen. Haldern Pop, das seit 1983 in dem kleinen Ort am Niederrhein stattfindet, ist sich auch in Jahren besonders großer Nachfrage treu darin geblieben, nie mehr als 7.000 Tickets zu verkaufen. In diesem Jahr war das Festival mit etwa 6.000 Besuchern allerdings nicht ausverkauft. Dies mag an dem – nachvollziehbarerweise – gestiegenen Ticketpreis liegen oder daran, dass zum Zeitpunkt des Festivals die NRW-Sommerferien bereits vorbei waren. Aber generell beklagen Konzertveranstalter, dass die Nachfrage noch nicht das Vor-Corona-Niveau erreicht habe.

Zum familiären Charakter des Festivals gehört, dass die Konzerte in der Dorfkirche selbstverständlich erst nach dem Einschulungsgottesdienst der Erstklässler beginnen konnten. Die Japanerin Hatis Noit, die klassisches Ballett, Theater, Gagaku (ein höfischer Musikstil aus China und Japan) und japanische Folk Songs studiert hat, überzeugte mit einer tollen Stimme und nie gehörten A-Capella-Klängen. Ihr Name ist aus der japanischen Folklore entlehnt und bedeutet Stängel der Lotusblume. Beeindruckend auch der Auftritt der 23-jährigen Singer-Songwriterin Meskerem Mees, die Songs ihres sehr empfehlenswerten Debutalbums „Julius“ präsentierte. Die Zuhörer konnten nachvollziehen, warum Mees im September des vergangenen Jahres den Montreux Jazz Talent Award 2021 gewann. Mit „sie hat die Seele von Nina Simone, den Charme von Joni Mitchell und eine Stimme so klar wie Quellwasser“ begründete man in Montreux die Preisvergabe. Die Mezzosopranistin Bettina Bruns begab sich, begleitet von Violoncello und Gitarre, auf eine musikalische Reise auf den Spuren der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff und dem ihr gewidmeten Roman Karen Duves „Fräulein Nettes kurzer Sommer“. Dabei verband sie Lieder von Droste-Hülshoff mit Kompositionen von Schumann, Schubert, Vivaldi, Bach, Mahler und Purcell.

Auf dem Marktplatz spielte „Husten“, die nach eigener Aussage „älteste (und heißeste) Newcomer-Band des Jahres“ rund um Gisbert zu Knyphausen. Die Band verbindet exzellentes Songwriting mit hoher Professionalität und hat mit „Dasein“ das vermutlich bewegendste Lied des Jahres geschrieben. „Guten Morgen, Ragazzi“, der neuesten Veröffentlichung der seit bald drei Jahrzehnten bestehenden Band „Erdmöbel“, wurde von der FAZ bescheinigt, „das Zeug zum Klassiker“ zu haben. Trotz brütender Hitze um 15 Uhr im Spiegelzelt kamen die Textkreationen der Band über den „Bernoulli-Effekt“, das „Beherbergungsverbot“ oder das „Palindrom“ (Lieblingspalindrom: „Retsinakanister“) beim Publikum gut an. Und angesichts der aktuellen Weltlage schien es allen gut zu tun, mit den „Erdmöbel“-Musikern die „Hoffnungsmaschine“ zu besingen.

Es fällt auf, dass in Haldern viele Musiker nach ihren Auftritten noch auf dem Festivalgelände bleiben. So konnte man miterleben, wie hochkonzentriert „Erdmöbel“ Songwriter Markus Berges den Auftritt des kanadischen Jazz-Ensembles „BADBADNOTGOOD“ verfolgte: mitreißendes Pianospiel, ein ekstatisches Saxophon, am klassischen Jazz geschulte Klänge, die aber völlig neu und überraschend wirken.

Normalerweise gilt in Haldern die Bauernweisheit, dass es an den Festivaltagen regnet (weswegen kein Besucher ohne Gummistiefel anreist). Diesmal aber lagen bei brütender Sonne die Temperaturen permanent über 30 Grad Celsius, weswegen auch die jüngeren Festivalgäste tagsüber den Schatten suchten. Der Stimmung tat dies aber keinen Abbruch.

Der Anteil an weiblichen Acts war höher als in den vergangenen Jahren, Musikerinnen zumal, die ein breites Spektrum an Aktivitäten mitbringen. Die US-Amerikanerin Anais Mitchell hat für das von ihr geschriebene Musical „Hadestown“ 2019 acht Tony Awards, darunter den für das beste Musical gewonnen. Auf der Haldener Bühne präsentierte sie die schönen Folksongs ihres in diesem Jahr erschienenen Albums. Die Britin Anna Calvi ihrerseits hat den Soundtrack zur fünften Staffel der Serie „Peaky Blinders“ geschrieben. Sie bestätigte in ihrem perfekt in Rot choreografierten Auftritt ihren Ruf einer virtuosen Gitarristin, die gar Vergleiche zu Jimi Hendrix rechtfertigt und die die Zuhörer in eine sinnliche Welt entführte. Die 1995 geborene englische Songwriterin Nilüfer Yanya – vor kurzem noch ein Geheimtipp – überzeugte mit einer tollen Band, einer wandelbaren Stimme und einer außergewöhnlichen Songstruktur.

Überragend war der Auftritt des Londoner Jazz-Quartetts „Sons of Kemet“. Die seit 2012 bestehende Band hat eine ungewöhnliche Besetzung: Gründer und Leiter Shabaka Hutchings spielt Tenorsaxophon und Klarinette und wird begleitet von Tuba und zwei Schlagzeugern, womöglich den besten, die der Rezensent je – zumal in einem so kongenialen Zusammenspiel – erlebt hat. Das allen Musikrichtungen gegenüber sehr aufgeschlossene Haldener Publikum war begeistert von der Mixtur aus Jazz, Rock, karibischem Folk und afrikanischer Musik. Man kann der musikalischen Leitung des Festivals auch deshalb besonders dankbar für die Verpflichtung der „Sons of Kemet“ sein, da die Band vor Kurzem verkündet hat, nach diesem Sommer für die absehbare Zukunft nicht mehr zusammenzuarbeiten.

Im nächsten Jahr feiert Haldern Pop das 40. Festival. Man darf gespannt auf das Line-Up sein. Sicher ist, dass wir wieder eine feine Auswahl an Musik erleben und viel Neues kennenlernen werden.