Wenn sich in einem Bereich unserer Gesellschaft während der letzten hundert Jahre eine wirkliche Revolution vollzogen hat, dann im öffentlichen Umgang mit der Sexualität. Wurde in der Adenauerära eine Kunstpostkarte mit dem Bild der Venus von Urbino noch unter dem Ladentisch verkauft, so liegt die LGBT-Toleranz in Deutschland heute bei etwa 73 Prozent; die gleichgeschlechtliche Ehe wurde 2017 eingeführt, der Christopher Street Day ist ein Volksfest. Dass damit noch längst nicht alles gut ist, braucht aber nicht den Blick darauf zu verstellen, was sich in der menschheitsgeschichtlich kurzen Spanne eines Jahrhunderts getan hat.
Dazu verhilft der Nachdruck eines Buches, das Kurt Hiller 1922 in die Welt hat hinausgehen lassen: „§175: Die Schmach des Jahrhunderts!“ Von den 15 Abschnitten dieses Buches sind sieben Neudrucke von Artikeln, die Hiller bereits ab 1911 in verschiedenen Zeitschriften (darunter Pan und der Neue Merkur) veröffentlicht hatte, sechs Abschnitte sowie Vor- und Nachwort sind Originalbeiträge. Hinzugefügt hat der Herausgeber als zweites Faksimile „Der Strafgesetzskandal“ von 1928 sowie eine Reihe von Aufsätzen aus den Jahren von 1922 bis 1960, die durch bibliographische Hinweise erschlossen werden, darunter zu Robert Musil und Magnus Hirschfeld. Ein einleitender Essay von Hans-Günter Klein fasst die zentralen Bereiche von Hillers schriftstellerischem und organisatorischem Engagement zusammen und stellt die Texte damit in einen weiten Rahmen.
In seiner Einleitung bezeichnet der Herausgeber das Ziel des Bandes so: „Die Neuausgabe des Hillerschen Buches zum 100-jährigen Jubiläum des Erscheinens soll mit dazu beitragen, das in einigen Bevölkerungskreisen noch immer nicht vorhandene Verständnis für sexuelle Vielfalt zu wecken.“ Ob das ausgerechnet durch die Faksimile-Ausgabe einer hundert Jahre alten Schrift auf breiter Front gelingen kann, scheint mir zweifelhaft, ist doch schon die Bedeutung des Paragraphen 175 im alten Strafgesetzbuch, der homosexuelle Handlungen von Männern unter Strafe stellte, Jüngeren – zum Glück! – nicht mehr geläufig. Die Hauptschwierigkeit benennt Lützenkirchen selbst: „Viele Anspielungen und Sachverhalte im Hillerschen Text sind überhaupt erst vor dem Hintergrund der Diskussion zum Paragraphen 175 im Kaiserreich und in der Zeit der Weimarer Republik verständlich. Aus heutiger Sicht sind das zum Teil sehr entlegene Diskussionen.“
Das gilt für einen Bereich nicht: den Fall Wyneken, dem Hiller zwei eigene Kapitel widmete. Der Reformpädagoge Gustav Wyneken (1875–1964), eine Leitfigur der Jugendbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, mit Intellektuellen wie Martin Buber, Magnus Hirschfeld und mit seinem früheren Schüler Walter Benjamin befreundet, hatte auf einer Wanderung einen zwölfjährigen und einen siebzehnjährigen Jungen nackt umarmt und geküsst; ein Hilfslehrer hatte das als homosexuellen Missbrauch angezeigt. Wyneken wurde zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, kam aber bereits im Frühjahr 1923 im Rahmen einer Amnestie frei.
Hillers Aufsätze „Zum Fall Wyneken“ und „Zu Wyneken’s Buch ,Eros‘“, zuerst 1921/22 im Neuen Merkur und in der Neuen Generation erschienen, stellen nur den winzigen Teil einer erregten öffentlichen Debatte zu diesem Fall dar, sie belegen jedoch die eindeutige Positionierung des Autors auf der Seite des Beschuldigten und beweisen seine bisweilen schneidende rhetorische Schlagkraft: „Ein Mann, angehörend jener verflucht winzigen Schar zeitgenössischer Deutscher, die, statt von den überlieferten Kulturgütern mehr oder minder befugt zu zehren, der Nation (und nicht ihr nur) neues Gut, köstliches neues Gut dazuliefern, wird in der Höhe seines Lebens aus Werk und Schöpfung gerissen, weil ein Wicht, ein ehrgeiziger Schlechtweggekommener, ein machtneidischer Mindermensch, ein Thersites, ihn brünstiger Handlungen zeiht, die verboten sind. Ein zwanzigjähriger Niemand, ein Student und Hilfslehrer Hoffmann, ein Knirps, um seinem peinigenden Unterlegenheitsgefühl Genugtuung zu verschaffen, stellt dem Riesen ein Bein, fällt den Riesen. Man müßte selbst ein Knirps, selbst ein Wicht, selbst eine ressimentale Kröte sein, ergriffe man da nicht, vor aller sogenannt sachlichen Prüfung, für den gefällten Riesen Partei.“
Hundert Jahre später wirkt nicht nur das elitäre Pathos unerträglich – nach der Aufdeckung der Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule und dem Bonner Aloisiuskolleg kann man auch der sachlichen Prüfung nicht entraten. Die Berufung auf altgriechische Knabenliebe und pädagogischen Eros, Wyneken wie Hiller 1921 noch möglich, kann niemand mehr in Anspruch nehmen: Missbrauch bleibt Missbrauch. Andererseits heißt es Obacht zu geben, wenn religiös konservative Kreise eine ganze pädagogische Richtung verunglimpfen und schwer erkämpfte Freiheiten zugunsten einer neuen Prüderie abzuschaffen versuchen. Doch das ist ein weites Feld.
Kurt Hiller: § 175: Die Schmach des Jahrhunderts! Nachdruck der Schrift aus dem Jahr 1922 mit einleitenden Hinweisen und ergänzenden Materialien, herausgegeben von Harald Lützenkirchen. von Bockel Verlag, Neumünster 2022, 284 Seiten, 25,00 Euro.
Schlagwörter: Gustav Wyneken, Hermann-Peter Eberlein, Homophobie, Homosexualität, Kurt Hiller, Paragraph 175