25. Jahrgang | Nummer 17 | 15. August 2022

Freiheit der Wahrheit

von Erhard Crome

Der Philosoph Udo Tietz hat ein sehr aktuelles, sehr lesenswertes Traktat über die strukturell freiheitsbeschränkende Wirkung der „politischen Korrektheit“ verfasst. Er verweist zunächst auf George Orwells „1984“, wo „die Partei“ befahl, dass den Erfahrungen der äußeren Welt zu misstrauen sei, während sie über die vollständige „Realitätskontrolle“ zu verfügen beanspruchte. Dem steht gegenüber der Artikel 5 des Grundgesetzes, der besagt: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“ Ausnahmen bilden lediglich der Schutz der Jugend sowie von Persönlichkeitsrechten. „Von einer Einschränkung“, so Tietz, „für den Fall, dass eine Äußerung empirisch falsch oder politisch gefährlich sei (wer immer dies dann feststellen darf), ist jedenfalls im Artikel 5 nichts zu lesen.“

Zuvor hatte Tietz auf den renommierten Handballprofi Stefan Kretzschmar verwiesen, der im Januar 2019 mit einem Interview in der Bild-Zeitung die Frage gestellt hatte: „Darf man nicht mehr sagen, was man denkt?“ Der Tagesspiegel nannte die Aussagen des Handballers nicht nur „falsch“, sondern auch „gefährlich“. Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine sahen das ähnlich. Der FDP-Mann Wolfgang Kubicki sprach von „Feigheit“, zur Meinungsfreiheit gehöre „auch der Mut zur Meinungsäußerung“. Tatsächlich hatte Kretzschmar das juristische Recht auf freie Meinungsäußerung auch nicht bestritten, jedoch angemerkt, dass es für ihn als Profisportler auch „Repressalien“ gab von Arbeitgebern und Werbepartnern und zudem das Phänomen des „Shitstorms“, mit dem man konfrontiert sei, „sobald man eine von der Öffentlichkeit abweichende Position vertritt“.

Um das Problem der grundgesetzlich garantierten Meinungsfreiheit geht es also nicht, betont Udo Tietz. Sondern „um die Reaktionen einer Gesellschaft auf eine Meinungsäußerung, die signifikant von dieser abweicht und die von einem Teil dieser Gesellschaft nicht einfach nur als empirisch falsch bezeichnet wird, sondern als politisch gefährlich (Hervorhebungen im Original), als anti-demokratisch, anti-liberal oder wahlweise auch als rassistisch, reaktionär, faschistisch und im schlimmsten Fall dann als nationalsozialistisch. Dekadent, frauenfeindlich und sexistisch sind dann die eher harmloseren Vorwürfe, die über sich ergehen lassen muss, wer das Gendersternchen nicht zu setzen bereit ist“. Nach einer Allensbach-Studie von 2019, die Tietz zitiert, attestierte die Mehrheit der Befragten zwar, das Recht auf freie Meinungsäußerung sei im Großen und Ganzen gesichert, doch fast zwei Drittel äußerten, der Raum für die Meinungsäußerung sei in den letzten Jahren sichtbar kleiner und der akzeptierte Meinungskorridor enger geworden. Es gäbe Einschränkungen, die themenabhängig sind, viele „ungeschriebene Gesetze“, welche Meinungen akzeptiert sind und welche nicht, allen voran das Flüchtlingsproblem, Äußerungen zu Muslimen und zum Islam, über den Rechtsextremismus. Im Unterschied zu Klimaschutz, Gleichberechtigung und Arbeitslosigkeit könne man über die „Tabu-Themen“ nicht frei sprechen.

Methodisch merkt Tietz an, dass dies eine empirische Studie war, die lediglich besagt, dass es diese „ungeschriebenen Gesetze“ gibt. Ihre Aufgabe war es nicht, deren Formen und Struktur zu bestimmen. Der Befund war eine Tatsachenbehauptung. Die kann als solche immer nur wahr oder falsch sein. Die Zeit jedoch warf dem Forschungsinstitut vor, die Studie bediene „rechte Ressentiments“ und würde Propagandaformeln des „rechten Kulturkampfes“ übernehmen. Für Tietz klingt dies in Ton und Argumentationsweise wie bei den Parteisekretären in der DDR vor 1989, bei denen ebenfalls als erstes nicht gefragt wurde, ob eine Aussage richtig ist, sondern ob sie „dem Klassenfeind“ nützen könnte.

In der Sache ersetzt die politische Korrektheit die „wahr/falsch-Distinktion“ durch eine „richtig/falsch-Distinktion“. Hier erinnert der Autor an den „König David Bericht“ von Stefan Heym, der künstlerisch in der DDR den Übergang von Ulbricht zu Honecker markierte. Der Staat müsse für die Machtsicherung sorgen und bestimmen, was „vernünftig“ in seinem Sinne sei. Deshalb brauche es die „durch Weisheit gezügelte Wahrheit“. Tatsächlich jedoch ist eine gezügelte Wahrheit stets nur eine „halbe Wahrheit“, und halbe Wahrheit keine Wahrheit. Im Kern geht es darum, dass sich die Politik die Wahrheit verfügbar zu machen bestrebt ist. Das alltagsweltliche Resultat waren „Doppeldenk“ und „Parteisprech“, die alle DDR-Bürger kannten: Eine Meinung für Zuhause und eine für draußen, um nicht anzuecken.

Tietz’ bemerkenswerter Befund ist nun, dass sich dies hinter dem Rücken des Grundgesetzes heute in den westlichen liberalen und demokratischen Gesellschaften vollzieht. Auch hier will die Politik über die Wahrheit verfügen. Dies wird jedoch nicht von Orwells „Partei“ angeordnet und polizeilich durchgesetzt. Es erfolgt über einen normativen Druck auf Auffassungen und Positionen, der über die Öffentlichkeit erzeugt wird. Es ist aber nicht einfach eine „öffentliche Meinung“, sondern die „herrschende Meinung“. Tietz zitiert Ferdinand Tönnies, der die Öffentliche Meinung mit einem Gerichtshof verglich, bei dem Ankläger und Richter in eins gesetzt sind und die „selbst an kein Gesetz und an keine Präzedenz gebunden sind“.

Der „Konformismus des Alltags und der alltägliche Opportunismus“ sind „weit in die Strukturen der Lebenswelt und in den Bereich der politischen Kultur“ eingedrungen. Das „Recht der freien Meinungsäußerung“ muss heute nicht mehr – so Tietz unter Bezug auf Habermas – vor dem Zugriff des Staates geschützt werden, „sondern die Meinung des Einzelnen vor dem Zugriff des Publikums“. Wer „man“ sagt, will die Diktatur der Öffentlichkeit durchsetzen und die Standards festlegen, was als diskussionswürdig gilt und was nicht. Zugleich ist die Herrschaft der Vielen die der Mittelmäßigen und damit des Mittelmaßes. Aus dem heraus bilden sich dann „Gesinnungs-Minoritäten“, die sich als der Majorität Wächter gerieren.

Ähnlich betonte kürzlich Slavoj Zizek (Berliner Zeitung, 6./7. August 2022), die „westliche Political Correctness“ sei „eine Verdrängung des guten alten Klassenkampfes – die liberale Elite gibt vor, die bedrohten rassischen und sexuellen Minderheiten zu schützen, um die grundlegende Tatsache ihrer privilegierten Wirtschafts- und Machtposition zu verschleiern“. Derlei „Linke“ seien nichts anderes „als Clowns im Wolfspelz: Sie geben sich als radikale Revolutionäre aus, während sie sich wie clowneske Verteidiger des Establishments verhalten“. Mit Udo Tietz kann man diese Zeitgeist-Gestalten besser verstehen.

Udo Tietz: Wahrheit und Freiheit. Ein Versuch über Political Correctness, normativen Zwang und Meinungsfreiheit, Wien: Passagen Verlag 2022, 88 Seiten, 11,00 Euro.