25. Jahrgang | Nummer 18 | 29. August 2022

Ein Brief an meine Göttin

von Eckhard Mieder

Meine liebe Eirene,

gestatten Sie mir, der ich nicht vorhatte, jemals über den derzeitigen Krieg zwischen zwei nationalistischen Oligarchen-Staaten zu schreiben –, gestatten Sie mir die Ausnahme in Form der folgenden Überlegungen, die Sie Vision nennen dürfen, Idiotie oder die Ansichten eines Clowns. Sie dürften Ihnen gefallen. Nämlich plädiere ich dafür, dass in Europa sämtliche Waffen (ausgenommen die Waffen der Jäger, der Polizei und der Geldtransporteure) abgeschafft werden. Sie gehören nicht ins Meer; der Umwelt zuliebe gehören sie in den Schmelzofen, verwandelt zu Klumpen aus Stahl, Aluminium, Titan, Polymere und ähnlichem, aus denen mehr zu formen geht als Pflugscharen. (Meer oder Ofen – es müsste untersucht werden, auf welche Weise die Natur am wenigsten gestört wird.)

Warum – eine dieser meiner Fragen, wie Dussel sie stellen – braucht Europa Waffen?

Es ist ein Reflex, als Antwort sofort zu rufen und zu hören: Wir müssen uns verteidigen können. Wir müssen wehrbereit sein, und zu diesem Behuf brauchen wir die neuesten Waffen, die neuesten Technologien des Menschenvernichtungszeugs. Wir müssen stärker und besser sein – als der Gegner, der Feind, das Böse.

Ich frage mich, Eirene, wer ist der Gegner, der Feind, das Böse? (Wer Europa ist, frage ich grad nicht.) Im Angebot gibt es viele und vieles. Terroristen, Diktatoren, Autokraten aller Farben, Religionen und Designs mitsamt ihren Regimes, Nationen, Besitzständen. Oder wer anderes?

Die USA – für den einen oder anderen der Feind schlechthin; aber als Aggressor für Europa scheiden sie aus, glaube ich. Aber wer weiß. Ich habe nicht das Gefühl, dass Europa für die USA unbedingt mehr ist als ein Außenposten, als ein Markt, als etwas wie ein zweckmäßig sortierter Fast-Bundesstaat?

Russland – Russland ist gerade ein prächtiger Grund, zu den vorhandenen Waffen noch etliche draufzupacken. Der Russe, gilt als ausgemacht, bedroht uns. Ich glaube zwar nicht, liebe Eirene, dass er in absehbarer Zeit auf dem Ku’damm paradiert oder seine Filzstiefel auf den Chaiselongues im Versailler Schloss platziert – aber wer weiß. Er teilt ja unsere Werte nicht. Während der Amerikaner – dessen Werte teilen wir. Dass ich, Ihnen darin gleich, für den obersten Wert halte, das Leben, die Existenz eines jeden Menschen zu schützen und zu wahren – nun, dieser Wert geht mir allerding über die Abstrakta Freiheit, Demokratie und dergleichen.

Auch darüber, weiß ich, ließe sich trefflich streiten. Ich geriet neulich in einen abendlichen Disput unter Rotwein-Menschen – ich geriete nicht unter sie, wäre ich nicht einer von ihnen, auch wenn ich trockene Weißweine bevorzuge –, in dem plötzlich bekannt wurde, die Ermordung Gaddafis und die rasche Erhängung Husseins seien mit Genugtuung und Freude aufgenommen worden und ein solches wünsche man Putin und anderen auch. Ich gestehe, beste Freundin, ich war irritiert, als ich in die Augen theoretisierend-bramarbasierender Tyrannenmörder blickte.

Wir hätten noch die Chinesen im Angebot. Ich erinnere mich an einen Witz, der in der DDR erzählt wurde. Die Chinesen haben Europa erobert, überrollt kraft Masse Mensch und Material, aber eine kleine, asterixhafte Region hat widerstanden: die Bergrepublik Suhl. Wenn ich den Witz richtig verstanden habe, dann lebte er von zweierlei Frivolitäten. A) die Chinesen wären quasi per Menschenmasse über den Erdball gequollen wie der Brei aus dem sagenhaften Topf im Märchen. B) nur so sturköpfige Hinterwälder wie die da im DDR-deutschen Süden wollten nicht untergebuttert werden; schon comic, schon sympathisch. Und das vor über dreißig Jahren. Jetzt rückt der Chinese auf der neuen Seidenstraße tatsächlich näher auf die europäische Pelle.

Doch zurück zu meiner Vision: Warum verlange ich nicht, dass nicht nur die Waffen in Europa abgeschafft werden, sondern auf der ganzen Welt? Nun, einer muss den Anfang machen. Warum nicht wir Europäer? Wir sind doch die oberschlaue Avantgarde des Fortschritts, die Speerspitze der Evolution? Muss ich mich vor der indischen, südafrikanischen, israelischen, mexikanischen Armee fürchten? Oder doch vor den Russen, wenn sie gemeinsame Sache mit den Chinesen machen – und es gibt nicht mal mehr den Bezirk Suhl!

Ich sah vor kurzem auf einem Foto etwas Krasses, Grässliches, Einschüchterndes, doch auch Schönes; eine irre Mischung von Eindrücken, die jene Dutzenden von Panzern, die reparatur- oder abwrackbedürftig waren und schier endlos in Reih und Glied standen, in mir auslösten. Eine ungeheure Masse an geformten Ressourcen, die vormals der Erde abgewonnen wurden. Eine unfassbare Menge an menschlicher Erfindungs- und Arbeitskraft, die in den Geräten des Krieges (oder seiner Verhinderung; wie absurd, dachte ich plötzlich; oder gibt es irgendeine menschheitliche Verabredung zu einem gigantischen Duell?) steckte. Eine unbegreifliche Verschwendung, die mich – wie oft, wenn ich mir atemberaubend Bauten, Kreuzfahrtschiffe, Bunker, Raumschiffe, Hafenanlagen, Flughäfen betrachte – seltsam berührte: Zu welcher Bauleistung der Mensch fähig ist! Wie er mit seinen Köpfen und mit seinen Händen die Gaben der Natur für seine Zwecke formen kann! Nur: Müssen es Panzer, Kanonen, Schlachtschiffe, Düsenbomber sein? Immer neue, nächste, zerstörungskräftigere?

Ich weiß, Eirene, es gehört zu den Grundpflichten eines Staates – zum Fundament, ohne dass es einen Staat nicht braucht –, das Land, zu deren verantwortlicher Dienerschaft er installiert und organisiert ist, gegen äußere Feinde zu verteidigen. Dazu braucht es Geld und Gerät. Das Geld bekommt er vom Bürger und vom Gewerbe, das Gerät fertigt die Industrie. Daraus ergeben sich Verantwortlichkeiten der Politiker, der Industriellen und des Volkes, eine Verwaltung von Interessen, die frei ist von Profitgier, Korruption, Lobbyismus und so weiter.

Sehe ich Sie, liebste Eirene, amüsiert lächeln und sacht den Kopf schütteln über mich kleinen, süßen Idioten?

Ich bin halsstarrig. Schreiben Sie es meinem Alter zu, dem üblicherweise Naivität nicht zugestanden wird; allenfalls darf ich von Verwandten der Naivität wie Trotteligkeit, Vergesslichkeit, Demenz besucht werden. Trotzdem frage ich mich wieder und wieder, welche äußeren Feinde hat mein Land Deutschland?

Ich sehe keinen Feind, der es militärisch darauf absieht, das Land oder Europa zu erobern. Ich gehe, glaube ich, nicht fehl in er Annahme, dass eine Besetzung Berlins durch Russen und Chinesen (oder wen sonst noch?) nicht bevorsteht oder auch nur irgendwo geplant wird. Eine Landnahme Frankreichs durch selbige scheint mir ebenfalls unwahrscheinlich. Dass demnächst das Kolosseum in Rom von einem vorwiegend arabischen oder chinesisch sprechenden Publikum bevölkert wird, das begeistert den slowakischen, litauischen, polnischen, schwedischen, spanischen …  Gladiatoren in ihren Kämpfen auf Leben und Tod folgt und applaudiert – auch das übersteigt meine Vorstellungskraft, beste Eirene.

Landesverteidigung – ein Wort kristallener Härte und Schwere; aber gegen wen? Bündnispartnerschaft – mit wem in einem Bündnis, für welche Werte? Wenn für mich, wie ich schon erwähnte, Teuerste, der oberste Wert der Erhalt des Lebens eines jeden Menschen ist – und nicht irgendein Abstraktum –, dann kommt mir die Produktion von Waffen wie die Produktion von Mord, Krieg, Aggression vor. Es ist eine Produktion jeder denkbaren Abscheulichkeit – in Lauerstellung. Es gibt den Satz, den jeder Kriminalist kennt: Wer eine Pistole besitzt, der möchte sie irgendwann benutzen.

Mir fällt grad der Ort ein, wo ich die existierenden Waffen abladen würde: auf der Schlangeninsel im Schwarzen Meer. Sie wird zu klein sein für so viel Gerümpel. Aber ich sehe Pflanzen und Bäume Wurzeln schlagen und wachsen. Vögel nisten in den Rohren der Kanonen, in den Luken der Panzer, in den Cockpits der Jets. Ich höre das Knistern der Erosion und wie sich Stahl zurückverwandelt in irdene Atome. Und weil dieser Haufen Müll nachrutscht, passen immer mal wieder Raketen, Panzer, Flugzeuge rauf. Und umschwärmt wird die Insel von Booten, in denen fröhliche Eltern sitzen, die ihren Kindern von dem Aberwitz erzählen, zu dem Menschen in der Lage sind: eines Rohstoffes wegen, einer Ideologie wegen, eines Machtanspruchs wegen dem Nachbarn den Schädel einzuschlagen, sein Haus zu plündern, und das alles aus Gründen der Selbstverteidigung et cetera pp.

Können Sie uns helfen, teure Freundin, so als Göttin außer Dienst?

Mit heiteren Grüßen,

Ihr weltfremder Freund