In Aix-en-Provence startete Anfang Juli wieder das traditionelle Musikfestival. Mit einer Serie von gut besuchten Premieren. Ohne die aus früheren Jahren gewohnte Überfüllung der Stadt. In den Restaurants und Bars gab es genügend Platz. Auf den sichtbar aufpolierten Flanierstrecken und Verweilplätzen im Zentrum auch.
Festspielchef Pierre Audi wurde im zweiten Jahr nach seinem Amtsantritt, im Sommer 2020, von Corona ins Internet vertrieben und holte im vorigen Jahr vor maskiertem Publikum etliches nach. Im dritten Corona-Sommer gab es jetzt unter halbwegs „normalen“ Bedingungen ein Programm mit einem guten europäischen (sprich mit Salzburg vergleichbaren) Festspielstandard. Vor allem was die Auswahl der Stücke und der Inszenierungsteams anbetrifft, manchmal auch musikalisch. Selbst die szenische Ausnahme einer in eine fernöstliche Dekorationsabstraktion entführten, statisch erstarrten „Idomeneo“-Bebilderung durch Satoshi Miyagi fand ihr Publikum, blieb aber wenigstens in seiner Zuschauerunterforderung die Ausnahme.
Das Programm bestimmten Richard Strauss’ Reißer „Salome“, Gioacchino Rossini nicht ganz so gängige Grand Opéra „Moses und Pharao“, Claudio Monteverdis „Krönung der Poppea“ und mit „Il viaggo, Dante“ eine exquisite Novität von Pascal Dusapin, die dem großen Italiener Dante ihre Referenz erweist. Eingerahmt wurden diese Highlights von einer eindringlichen Installation Romeo Castelluccis zu Gustav Mahlers sogenannter „Auferstehungssinfonie“ zum Auftakt und dem kammermusikalischen Dialog „Woman at point zero“ über die Unterdrückung der Frauen in den Regionen der südlichen Mittelmeerküste zum Abschluss. Dem geweitetten dramaturgischen Blick in die Nachbarregionen Europas hatte sich nicht nur der selbst im Libanon geborene gegenwärtige Festspielchef zu einer Pflicht gemacht. Wobei dieser Aufarbeitung der Unterdrückung der Frauen in Südfrankreich die eigentlichen Adressaten wohl eher fehlten.
Castelluccis erklärtermaßen vor Kriegsausbruch in der Ukraine konzipierte Installation „Résurrection“ bezieht emotionale Wucht aus der Kollision der in der konkreten Szene ästhetisch zu Kunst geronnenen archaischen Geste und einer über die Ukraine hereingebrochenen Kriegswirklichkeit, die die Kunst gleichsam überholt. Auferstehung als Versuch, auch Ermordeten ihre Würde und Identität zurückzugeben. Die Freilegung eines Massengrabes zur Musik Mahlers im Stadium de Vitrolles – das sitzt.
Im Grand Théâtre de Provenc sucht Theaterikone Andrea Breth in ihrer „Salome“-Deutung gleichsam nach mildernden Umständen für die obsessiv rücksichtslose Gier der Protagonistin. Mit der musikalischen Rückendeckung von Ingo Metzmacher am Pult des Orchester de Paris lässt sich die junge Elsa Dreisig auf dieses Rollenabenteuer, das sie (noch) nicht wirklich mit der hochdramatischen Vehemenz für das nötige Quantum Wahnsinn besteht, ein. Eine grau verschleiert romantisierende Bildästhetik ist der Raum für die bewährte Präzision der Breth in der Personenführung. Ein szenisches Leitmotiv liefert der brüchige Boden über den brodelnden Abgründen von unkontrolliert ausbrechender Leidenschaft. Hier steigt nicht nur durch Risse Licht und die Unheil dräuende Stimme des eingekerkerten Propheten auf; in einer Bruchstelle auch der von Salome begehrte Jochanaan (Gábor Bretz) selbst. In der Schleiertanzszene gehört es zu den Visionen, die den Tanz ersetzen, dass Jochanaan ein Salome-Double mit einer Hand am Hals – im Würgegriff – auf Abstand hält. Es gibt etliche solcher fein gedachten Momente der Irritation, selbst wenn vokal ein wirklich elektrisierender Funke nicht überspringt und fesselt. Zumindest nicht so wie bei Angela Denoke als attraktiv begehrender, bis in die letzte Handbewegung hinein perfekt durchchoreografierter Herodias. Sie schiebt sich samt Hofstaat in Abendmahl-Konstellation vor die bis dahin alptraumartige Gefühlslandschaft, in der die Gestalten wie in Zeitlupe der Musik folgen, die Metzmacher geradezu zelebriert. Breth verweigert mit ihrem streitbaren Eigensinn nicht nur den Tanz der Salome, sondern auch den abgeschlagenen Kopf des Jochanaan. Der fand sich zuvor noch lebendig, singend, drapiert wie ein perverser Tischschmuck, auf der königlichen Tafel. Wenn ihn Salome dann im Bottich in einem schmalen gekachelten Raum tatsächlich vor sich hat, bekommt ihn das Publikum nicht zu sehen. Am Ende liegt Salome zusammengekrümmt hinter diesem Bottich.
Unter freiem Himmel bot das Théâtre de l’Archevêché für Tobias Kratzer und Michele Mariotti am Pult des Orchesters der Oper Lyon den Rahmen für Rossinis Grand Opéra „Moïse et Pharaon“. Bei diesem Regisseur (und seinem Ausstatter Rainer Sellmaier) wird der zu seiner Entstehungszeit populäre Opern-Blockbuster natürlich mit dem Erfahrungshorizont von heute konfrontiert. Die Bühne ist zu Beginn zweigeteilt. Auf der einen Seite – eine kühl moderne Bürowelt des Pharaos (Adrian Sâmpetrean). Unmittelbar daneben – die Unterkünfte um den historisch kostümierten Bilderbuch-Moses (Michele Pertusi). Kratzer sucht in den alltäglichen Ambivalenzen der Akteure einen dialektischen Zugang zu der Geschichte. Es kommt einem sehr bekannt vor, wie hier am Schreibtisch der Ägypter über deren Freilassung verhandelt wird. Inklusive des souveränen Eingreifens der First Lady (fulminant: Vasilisa Berzhanskaya). Um die opernunvermeidliche Liebesgeschichte zwischen dem Pharaonensohn Aménophis und seiner jüdischen Geliebten Anaï bemühen sich Pene Pati und Jeanine De Bique. In der biblischen Geschichte vom Auszug der Hebräer aus Ägypten ist die berühmte Durchquerung des Roten Meeres ein szenischer Höhepunkt. Dafür gibt’s heutzutage Video (Manuel Braun). Bei Kratzer machen sich die mit Schwimmwesten ausgerüsteten Hebräer in Holzkähnen und Schlauchboten auf den Weg und landen verstreut im Zuschauerraum. Während im Video eine Gruppe von rennenden Menschen im Business-Outfit in einer langsam und unerbittlich steigenden Flut ertrinkt.
Eine ebenso spektakuläre Reise bietet auch die Uraufführung von „Il viaggo, Dante“ im Grand Théâtre de Provence. Allerdings schickt Regisseur Claus Guth hier einen heutigen Wiedergänger des vor 700 Jahren verstorbenen Dante (eindrucksvoll: Jean-Sébatian Bou) auf eine imaginäre Reise ins Innere eines Sterbenden. Wobei Pascal Dusapin mit eindrucksvoller Intensität vor allem eine Vertonung von Szenen der Göttlichen Komödie als musikalischen Reiseplan erstmals vorstellt, den Kent Nagano mit Präzision und aufscheinender Opulenz präsentiert. Der Komponist mit der erkennbaren Vorliebe für den Blick in die Abgründe hinter der sichtbaren Wirklichkeit behandelt das große Orchester nicht als Relikt, sondern kann in seiner musikalischen Sprache etwas damit anfangen. Mit Lust am großen, sich entfaltenden Klangbild, am musikalischen Atmen und der Fähigkeit, seinen Protagonisten Gesangsfutter zu geben, und obendrein dabei eine erkennbare Geschichte zu erzählen.
Zu Beginn zeigt ein Video wie ein übermüdeter Autofahrer in einen üblen Unfall rast. Schwerverletzt kommt er auf der Bühne bei sich daheim an. Alles, was folgt, ist jene Reise der Selbsterforschung. Effektvoll öffnet sich das gutbürgerliche Arbeitszimmer zu einem Raum, vielleicht des Unterbewussten. Um mit Even Hughes als langhaarigem Reisebegleiter Vergil den berühmten langen Weg ins Paradies anzutreten. Immer mit dem Bild seiner Beatrice vor Augen. Und reflektiert von Christel Loetzsch als jungem Dante mit warmtönender Trauer über den frühen Verlust der Geliebten. Eindrucksvoll die Vorhölle als Wartesaal, in der die unschuldig schuldig Gewordenen wie Zombies auf den Stühlen an der Wand warten. Hier ist Guth die Schaffung einer eigenen, in sich stimmigen Welt gelungen. Zwischen Traum und Wirklichkeit, als Höllenfahrt oder Moment des Sterbens. Dank Nagano und dem Orchester der Opéra de Lyon kann man der Suggestivkraft der Musik nicht ausweichen.
Im Théâtre de Jeu de Paume nahmen sich Leonardo García Alarcón und die Cappella Mediterranea, Regisseur Ted Huffman und ein erfrischend junges Ensemble Claudio Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“ an. Ohne lähmenden übergroßen Respekt, dafür mit unbändiger Lust an einer Sex-and-Crime-Geschichte, bei der die erotischen Einfälle nur so Funken sprühen. Im Zentrum: Poppea Jacquelyn Stucker und Nerone Jake Arditti. Sie als ehrgeizige Aufsteigerin, die beim Kampf um den Mann und Kaiser alle Mittel einsetzt. Der wiederum ist scharf aus sie, und beseitigt erst den Bedenkenträger Seneca (Alex Rosen) und dann noch seine Gattin Ottavia (Fleur Barron). Hier wird offensiv mit dem Sexappeal der Darsteller gewuchert. Auf dem Weg bis zur Krönung fliegen die Fetzen, kommt auf der kargen Spielfläche von Johannes Schütz keinerlei Langeweile auf. Instinktsicher komödiantisch Miles Mykkanen als Arnalta und Nutrice. Monteverdis Feier der Leidenschaft – zwar nicht als Vorlage zur Nachahmung, aber als überraschend unterhaltsames, pures Theatervergnügen! Das gibt es auch nicht oft.
Und der Ausblick? Den gibt es bei Festspielchef Audi nicht (mehr). So wie auch die einst traditionellen Austauschmöglichkeiten mit den Künstlern nach den Premieren. Manches war früher halt wirklich besser.
Das Festival dauert noch bis zum 23. Juli 2022; etliche Produktionen werden auf arte übertragen und/oder gehen an koproduzierende Häuser.
Schlagwörter: Aix-en-Provence, Festival, Joachim Lange