25. Jahrgang | Nummer 15 | 18. Juli 2022

Das 9-Euro-Ticket – ein selten effektives Ärgernis für Pendler

von Thomas Behlert

Es ist früh am Morgen und ein Hahn, der noch nicht gerichtlich zum Schweigen gebracht wurde, sendet einige Naturtöne gen Stadt. Ich sattle mein altes Fahrrad und fahre in Richtung Bahnhof, um mich dem täglichen Kampf mit 9-Euro-Ticketbesitzern zu stellen. Dieser wird noch bis Ende August toben und all die bisherigen Pendler ziemlich fertig zurücklassen und vielleicht sogar zurück zum PKW treiben.

Am Bahnhof angekommen sind schon mal alle noch nicht zerstörten Fahrradständer von hell in der Sonne blinkenden teuren Fahrrädern besetzt. Mögen am Ende des Tages noch Teile davon auf den Besitzer warten. Schnell schließe ich mein Rad an den Bauzaun an, der mittlerweile seit sechs Wochen die restlichen Fahrradständer umschließt und die Errichtung eines neuen Fahrradparkplatzes vorgaukeln soll. Bisher wurden vom städtischen Bauamt an die vorhandenen Fahrräder lediglich wetterfeste Zettel geheftet, die mit einem schnellen Wegräumen der klapprigen Räder drohen, wenn diese nicht bald an anderer Stelle angekettet werden. Wohin nur, denn der frühere überdachte Abstellraum ist schon seit Jahrzehnten baufällig und mit einem Band abgesperrt.

Nun noch schnell die Maske übergestülpt und den gerade einfahrenden Arbeiterzug bestiegen. Doch so einfach ist das nicht, denn Trupps mit riesigen Fahrrädern, Rentnervereinigungen mit spitzen Stöcken, die sie gerne in Füße anderer rammen, und lärmende Schulklassen mit ahnungslosen Lehrern wollen alle den einen Wagen der Privatbahn besteigen. Wie schon so oft, fährt gerade zu dieser Stoßzeit eine kurze Bahn, da die Vorrichtung zur Mitnahme eines zweiten Wagens wieder defekt ist.

An einen freien Sitzplatz ist nicht zu denken, da alle vorhandenen bereits von Familien mit lauten Kindern und Frauenvereinigungen mit Sektflaschen besetzt gehalten werden. Leise hört man Pendler fluchen und sich die überteuerte Abo-Karte zurück und den Menschen, die den Stammplatz blockieren, Corona oder eine defekte Toilette an den Hals wünschen. Da Letzteres in diesem Zug zutrifft, werden bald Kinder und dann auch ältere Damen noch lauter, weil Verzweiflung sich breitmacht.

Als ewiger Pendler kennt man sich aus und hat Mittel gefunden, die hygienisch auf dem letzten Loch pfeifenden Toiletten nicht benutzen zu müssen. Bis ich meinen Zielbahnhof erreiche, steigen an längst vergessenen Haltepunkten immer mehr Menschen mit Fahrrädern, Kinderwagen, großen Hunden und Wanderausrüstungen ein. Das Gedrängel wird zuerst immer größer, um schließlich abzuebben, weil niemand sich mehr bewegen will und kann.

Übrigens ist es immer noch früh am Morgen, ein ganz normaler Arbeitstag, und trotzdem suchen ungezählte Menschen nach Erholung mit Rad, Kind und Stock.

Schließlich hält der Zug an meinem Ziel und ich drängle mich durch schimpfende, übelriechende, sich laut am Handy unterhaltende und es mit der Maske nicht so genau nehmende Fahrgäste in Richtung Ausgang. Man drückt schon panisch irgendwelche Knöpfe, denn die automatischen Türen könnten ja gar nicht schnell genug aufgehen.

Auch auf dem Bahnsteig ist an Ruhe und Frieden nicht zu denken, denn viele Aussteiger reißen sich noch vor der engen und mittlerweile verstopften Unterführung die Maske vom Gesicht. Tief werden nun von den 9-Euro-Ticketbesitzern die olfaktorischen Zumutungen von schlecht deodorierten Achseln oder viel zu gut parfümierten Dame eingeatmet. Es wird gehustet, frei heraus genießt und in von Tauben noch nicht ganz vertilgte Kotze getreten. Kinder rufen um Hilfe, Rentner wirbeln mit ihren Stöcken wild um sich und Besitzer von E-Bike-Monstern überrollen Minihunde oder purzeln die letzten Stufen hinunter, da der Fahrstuhl das Schild „defekt (hier wird für Sie umgebaut)“ trägt.

Die spätere Rück- ähnelt der Hinfahrt, nur dass jetzt geschaffte und zerknirschte Pendler die Heimreise angetreten haben, eigentlich ihre Ruhe wollen, aber den mitfahrenden ÖPNV-Neuzugängen zuhören müssen, wie die – nach allen Richtungen lautstark Zustimmung einfordernd – über den Staat im allgemeinen und die erlebten hohen Bier- und Eispreise heftig schimpfen.

Ob am Ende des Billigpreisquartals mehr Pendler übrig bleiben, darf bezweifelt werden, denn die Verbindungen zwischen kleineren Orten sind schlecht, höhere Bahnpreise bereits angekündigt und  diese ganze Hauruckaktion ist keine gute Werbung für den ÖPNV.

Gebt mir meinen Sitzplatz wieder!