25. Jahrgang | Nummer 14 | 4. Juli 2022

Vom einmaligen Erlebnis des Spielens

von Alfred Askanius

Mit dem Ende der Spielzeit gibt die derzeit dienstälteste Intendantin Berlins die Leitung ihres Hauses ab. Das wiederum feierte im vergangenen Jahr dreißigjähriges Jubiläum und konnte aus diesem Anlass auf 158 Premieren und rund 400.000 Zuschauer verweisen. Letzteres klingt bescheiden – aber man muss wissen, dass der Zuschauerraum im Haus am Kastanienwäldchen nur 99 Plätze hat, in den zu Ende gegangenen Pandemie-Monaten durften – wenn überhaupt! – nur 28 davon besetzt werden. In Worten: achtundzwanzig! Wenn ausverkauft ist. Kammertheater gegen einen fast leeren Saal zu spielen ist die Hölle. Man muss das Theater schon sehr lieben, um das durchzuhalten.

Die Rede ist vom Theater im Palais, und die Rede ist von Gabriele Streichhahn. Bereits am 1. Juni wurde sie von Freunden und Kollegen in einer berührenden Matinee verabschiedet, selbst der Kultursenator war erschienen und sprach von einem Politiker selten gehörte sehr persönliche Worte.

Das hat auch mit der Persönlichkeit dieser Künstlerin zu tun – Phrase und Blech sind ihr zuwider, sie neigt dann leicht den Kopf, sagt keinen Ton, aber das Mienenspiel sagt alles. Das Gesicht, die Hände, die Körperhaltung, der Schritt … Mit drei Schritten müsse man mehr aussagen können als mit einem langen Satz, sagte sie mir im Gespräch. Ja, wenn man es kann. Wenn man es gelernt hat.

Streichhahn hat es gelernt. So richtig mit einem Diplom der Leipziger Theaterhochschule „Hans Otto“. An die kam sie übrigens auf recht merkwürdige Weise, erzählt sie immer noch leicht verwundert über das vor vielen Jahren Erlebte. Aus dem ursprünglich geplanten Lehrerstudium in Erfurt (Mathematik und Kunst – „Obwohl ich doch überhaupt nicht zeichnen kann!“) wurde nichts, dann landete die junge Frau als Dramaturgie-Praktikantin am Berliner Deutschen Theater, fand Gefallen an der Sache und bewarb sich an der Humboldt-Universität. Wieder nichts … aber ein Umlenkungsgespräch Richtung „Darstellende Kunst“ (die erste Reaktion Empörung: „Die wollen, dass ich Bildhauerin werde!“). Normalerweise läuft das umgekehrt, gescheiterte Kunstkarrieren enden häufig im Bildungswesen – und wer in der DDR erst einmal auf „Margots“ Listen stand, kam da eigentlich so schnell nicht wieder runter. Gabriele Streichhahn hatte Glück.

Glück hatte sie auch mit dieser Schule. Leipzig bot – seinerzeit in beiden deutschen Staaten einmalig – eine Art duales Studium. Zwei Jahre in Hörsälen und Seminarräumen. Zwei Jahre eine Studio-Ausbildung an „richtig“ großen Bühnen. Für Streichhahn war das das DNT in Weimar. Als Studentin auf dieser Bühne spielen dürfen … hab ich bei dieser Erzählung die Augen ein klein wenig glänzen sehen? Aber in Weimar war des Bleibens nicht, dafür Erfurt. Schauspieldirektor Ekkehard Kiesewetter holte die junge Aktrice ans dortige Theater. Immerhin blieb sie in Erfurt von 1976 bis 1985 und konnte sich querbeet durch die „Literatur“ spielen. Stadttheater ist eine harte Schule nach der Schule. Gabriele Streichhahn meint noch heute, dass der sichere Gebrauch des Handwerkszeugs das A und O auch für Schauspieler ist. Alles andere baue darauf auf. „Ich will nicht Theater als Museum erleben, aber ich will auch nicht auf Video sehen, was die Leute hinter der Bühne machen.“ Das war ein kleiner, aber deutlicher Seitenhieb auf die in fußläufiger Entfernung ansässigen großen Tempel des „Regie-Theaters“. Mit weit über 200 Stücken auf der eigenen Rollenliste darf man das.

Mit einer gewissen Fassungslosigkeit erinnert man sich selbst übrigens, dass Erfurt einmal ein zumindest für die DDR bedeutender Schauspielstandort war. Unter Kiesewetter brachte das Theater Erfurt 1982 als DDR-Erstaufführung Brechts „Baal“ (Regie: Friedo Solter) heraus. Dario Fo durfte ich erstmals in dieser Stadt erleben … In Erfurt bildete sich ein engerer Kontakt der jungen Schauspielerin zur Regisseurin und Dramaturgin Barbara Abend heraus – man war sich schon in Weimar begegnet. Abend ging 1981 nach Berlin zum Theater im Palast und holte später Gabriele Streichhahn nach. An diesem mythenumwobenen Institut – dessen Geschichte genauer aufzuschreiben sich lohnen würde – fand sich rasch eine „Fünfergruppe“ Gleichgesinnter – darunter Gabriele Streichhahn – zusammen, die zunehmend das Profil des Hauses prägte. Und die wählten sich – ein unerhörter Vorgang – in der Wendezeit einen eigenen Intendanten, Siegfried Wein. Streichhahn, eigentlich eine abgrundtief freundliche Person, wird böse, wenn sie die Berichterstattung über diese Zeit durch westgeprägte Journalisten reflektiert: „Man kann sich nicht vorstellen, dass man sich im Osten aus eigener Kraft durchsetzen konnte.“

Allerdings war gleichsam über Nacht Schluss mit dem versuchten Aufbruch: Am 19. September 1990 wurde der Palast der Republik aufgrund seiner Asbestbelastung geschlossen, die Volkskammer zog in den nicht minder mineralfaserbelasteten Sitzungssaal des SED-Zentralkomitees und die Schauspieler und der Intendant standen vor der Tür … und fanden das kleine, leerstehende Theaterchen im ehemaligen „Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft“. Offiziell wurde das „Theater im Palais“ vom übrig gebliebenen TiP-Team am 22. März 1991 gegründet. Die erste Inszenierung gab es aber schon eher. Um den Jahreswechsel erarbeitete man Andersens Märchen „Der Tannenbaum“. Noch heute erzählt Gabriele Streichhahn mit großer Belustigung von der Darstellung des kleinen, mittelgroßen und dann richtig großen Bäumchens durch sie, Carl Martin Spengler und Jens-Uwe Bogadtke. Stellte man jetzt die Drei nebeneinander … die Kleine, der Mittelgroße und der ganz Große – in Zentimetern natürlich! –, bekommt man durchaus eine Vorstellung von diesem frech-sentimentalen Versuch, den Fuß in die Tür des Berliner Nachwende-Theater zu stellen.

Schon 1991 inszenierte Barbara Abend Willy Russels „Shirley Valentine oder Die heilige Johanna der Einbauküche“, ein Einpersonenstück, das Streichhahns große Erfolgsnummer wurde. Und natürlich Theodor Fontane. Seit 1992 gab sie 15 Jahre lang die Effi – und jedes Mal könne man ihn besser verstehen, erscheine er mit neuen Facetten, meint sie heute. Jede neue Aufführung sei anders. Noch dazu in dieser Art literarischem Kammertheater, wie es sich im Haus am Kastanienwäldchen entwickelte. Das hat auch mit dem Publikum zu tun, das an keinem Abend dasselbe sei, das anders reagiere, ja interagiere. Daraus erwachse, sagt die Vollblut-Schauspielerin, „das einmalige Erlebnis des Spielens“. Und wenn man allein die Vielzahl der Autoren, der sich die kleine Compagnie des Hauses in den inzwischen abgelaufenen 31 Jahren stellte, Revue passieren lässt, neigt man schon demütig das Haupt – und ärgert sich über all das, was man verpasst hat. Immerhin reicht das Spektrum der „Großautoren“ von Shakespeares „schottischem Stück“ bis zu Kishons „Es war die Nachtigall“, von der Vielzahl der – hauptsächlich von Barbara Abend und der „Hausmusikerin“ Ute Falkenau erarbeiteten – literarisch-musikalischen Programme ganz zu schweigen.

Über die Schauspielerin Gabriele Streichhahn wäre noch entschieden mehr zu erzählen. Aber ich möchte die Intendantin (und Geschäftsführerin) nicht unterschlagen. Am 1. November 1999 übernahm sie von Siegfried Wein die Leitung des Hauses und betrat es fortan quasi in zweierlei Gestalt. Was es bedeutet, dieses kleine Theaterschiffchen durch die Untiefen der Berliner Kulturlandschaft 23 Jahre lang souverän gesteuert zu haben, kann man erahnen, wenn man sich eine Liste der seit Mitte der 1990er Jahre verlorengegangenen Institute erstellt. Da finden sich neben etlichen „Kleinen“ wie der „Tribüne“ und dem „Hansa-Theater“ auch richtig „Große“ wie das „Schiller-Theater“ oder das „Metropol“. Respekt, Frau Prinzipalin! Das soll erstmal einer nachmachen …

Kann so eine Künstlerin einfach loslassen? „Ich weiß nicht, ob ich es kann, aber ich tu es“, sagt sie lächelnd. Natürlich bleibt sie dem Haus und ihrem Publikum auf der Bühne erhalten. Am 7. September ist sie im „Buddha vom Alexanderplatz“ wieder zu erleben. Mein Tipp: Wer’s nicht kennt, hingehen!

Und einen Satz gab Gabriele Streichhahn mir nach unserem langen Gespräch mit auf den Weg: „Für die Menschheit habe ich nicht so viel Hoffnung wie für das Theater.“ Sie weiß sich in einer über zweitausend Jahre währenden Tradition – und gibt das kleine Schälchen Hoffnungstrunk gern an ihre Nachfolgerin Alina Gause weiter. Gabriele Streichhahn, ganz großen Dank! Und Alina Gause: toi, toi, toi …