Über Thales, den griechischen Mathematiker und Philosophen, erzählt man sich, er habe in Erwartung einer guten Olivenernte schon Monate zuvor die Ölpressen seiner Umgebung billig angemietet und, als die Spekulation sich als richtig erwies und die Olivenbauern verzweifelt Verarbeitungskapazitäten suchten, mit der Weitervermietung einen schönen Batzen Geld verdient. Die Erzählung schweigt davon, dass den Gewinn letztlich die Verbraucher mit höheren Ölpreisen bezahlt haben und sich manche das Öl – ein Grundnahrungsmittel jener Zeit – nicht mehr leisten konnten. Vielleicht trugen auch Bauern diese Last, die im Falle gleichbleibender Preise – aufgrund der guten Ernte könnten sie sogar gesunken sein – jetzt höhere Kosten hatten.
Das war vor über zweieinhalbtausend Jahren, funktioniert jedoch heute noch ganz genauso. Auch gegenwärtig blüht das Geschäft mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln, die noch nicht gewonnen oder geerntet wurden. Mittels an Warenterminbörsen gehandelter Futures werden künftige Ernten aufgekauft. Für die Agrarbetriebe kann das eine Versicherung sein, weil ihnen die Abnahme der Ernte zu einem bestimmten Preis garantiert ist. Die Käufer jedoch spekulieren auf Preissteigerungen. Da sie mit ihren Kaufoperationen die Nachfrage nach der künftigen Ernte steigern, erhöhen sich die Preise tatsächlich, es entsteht ein sich selbst verstärkender Effekt, eine self fulfilling prophecy. Solche Spekulationen sind für einen guten Teil der heutigen Preissteigerungen sowohl auf dem Rohstoff- wie auf den Nahrungsmittelmärkten verantwortlich.
Eine andere Ursache ist die Monopolstellung der Rohstoff- und Nahrungsmittelhersteller und der Händler, die schon jetzt höhere Preise durchsetzen können. Bei diesen Spekulationen und beim Ausspielen einer Monopolstellung wird billigend in Kauf genommen, dass viele Konsumenten diese Preise nicht zahlen können. Die Ernährungssituation ist mit weltweit über 800 Millionen Hungernden, davon allein in Afrika 280 Millionen, katastrophal, und ein paar Kilo Getreide mehr oder weniger sind oft eine Frage von Leben und Tod. Die Verschärfung des Problems ist absehbar.
Die Anleger kümmert dies nicht; über den Hunger irgendwo in Afrika denkt man nicht nach und der Tod wird zumindest stillschweigend in Kauf genommen. Mike Davis schildert in seinem berühmten Buch „Die Geburt der Dritten Welt“, wie die britische Kolonialmacht im späten neunzehnten Jahrhundert Hungersnöte in Indien hinnahm, offiziell, weil sie Markteingriffe ablehnte, in Wirklichkeit aber wohl, weil die Preissteigerungen höchste Profite ermöglichten. Teilweise waren sogar ausreichende Nahrungsmittelvorräte vorhanden, aber die Bevölkerung konnte die Preise nicht bezahlen. So gab es trotz des Hungers Berge von Getreide.
Es könnte eingewendet werden, dass der Staat oder die Weltgemeinschaft heutzutage mit Hilfen und Spenden eingreifen würden. Das wird zweifellos auch geschehen, wird aber wenig mehr als eine Milderung bewirken. Wir sehen auch am Beispiel Deutschlands, welche Folgen das hat. Die Inflations-Entlastungspakete der Bundesregierung und der Aufrüstungskurs werden mit Einsparungen an anderer Stelle erkauft. So kürzt der Bund beispielsweise den Titel Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung trotz der dramatischen Situation in vielen ärmeren Ländern um 12,6 Prozent. Bildung, Verkehr und Infrastruktur, Natur- und Verbraucherschutz und andere Bereiche müssen ebenfalls bluten.
Für die aus den spekulativen Preissteigerungen bei den Rohstoffen resultierenden Extraprofite kommt also die Allgemeinheit auf, entweder mit höheren Spenden, mit sinkenden verfügbaren Realeinkommen, mit Abstrichen beim Erhalt von Infrastruktur und Daseinsvorsorge oder, wie im Falle unterentwickelter Länder, mit dem Hungertod.
Die Preissteigerungen resultieren zwar auch aus wirklichen Engpässen in den Lieferketten und Produktionsausfällen infolge der Pandemie und des Krieges in der Ukraine. Putin lässt Getreideausfuhren aus ukrainischen Häfen ungerührt blockieren und fordert Lockerungen der Sanktionen als Gegenleistung für eine Aufhebung der Blockaden. Der Westen lehnte umgehend ab: Man lasse sich – Hunger in Afrika hin oder her – nicht erpressen. Bei Energie gibt es eigentlich keine Engpässe; denn entsprechende russische Rohstoffe sind unverändert verfügbar. Aber es wird erwartet, dass es zu Verknappungen kommt. Für Spekulanten ist das eine ideale Situation, und auch die Händler werden darauf bauen, dass morgen höhere Preise als heute erzielt werden können. Der Nahrungsmittelpreisindex der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO liegt bereits auf Rekordniveau, und er begann lange vor dem Krieg zu steigen. Der Handel mit Futures schoss vor allem mit der Finanzialisierung der Weltagrarmärkte empor, weil es den Anlegern üblicherweise völlig gleichgültig ist, woher und wie sie zu ihren Kursgewinnen kommen. Ihre Portefeuilles werden ständig zugunsten der gewinnträchtigsten Papiere umstrukturiert, egal ob denen Güter zugrunde liegen, die zum Luxus zählen oder auf die getrost verzichtet werden kann, oder ob es solche sind, von denen die Nahrungsmittelsicherheit abhängt. Im öffentlichen Interesse wird daher seit langem ein Verbot von Nahrungsmittelspekulationen, zumindest aber eine stärkere Kontrolle und Regulation gefordert. Passiert ist nicht wirklich etwas. Die elterliche Mahnung an die Kinder, „Mit Essen spielt man nicht“, ist längst vergessen; für mächtige Interessengruppen sind die „Wetten auf den Hunger“ einfach zu profitabel.
Im wettverrückten England waren mit dem sogenannten Gambling Act von 1774 Wetten auf den Tod anderer Personen verboten worden. Die bis dahin gültigen Regelungen über Lebensversicherungen ließen es zu, dass man nicht nur das eigene Leben versicherte, dass also im eigenen Todesfall eine andere Person die Versicherungssumme erhielt, es war vielmehr auch möglich, dass zwei oder mehr Personen wetteten, ob ein Dritter bis zu einem bestimmten Zeitpunkt verstorben wäre. Spektakulär war der Fall, bei dem zwei potentielle Erben – William Pigot und William Codrington – 1770 darauf wetteten, wer ihrer Väter früher stürbe. Der Verlierer sollte einen Teil seines Erbes an den Gewinner zahlen. Der Fall landete vor Gericht, weil, was die beiden zum Zeitpunkt des Wettabschlusses noch nicht wussten, Pigots Vater kurz zuvor bereits verstorben war und der Verlierer die Wette deshalb für ungültig hielt. Der Richter erklärte sie jedoch für rechtens und der Gewinner erhielt sein Geld. Der Fall soll Anlass für die Verabschiedung des erwähnten Gesetzes gewesen sein.
Vor zehn Jahren wurden in den USA Fälle bekannt, bei denen einige Fonds Lebensversicherungen aufkauften; die Versicherungsnehmer erhielten die Versicherungssumme mit einem saftigen Abschlag bereits zu Lebzeiten. Die Fonds übernahmen für die Versicherten die weitere Prämienzahlung und wurden im Todesfall prompt ausbezahlt; man nennt das Death Bet. Die Anleger profitieren in diesem Falle also direkt vom Tod der Versicherten, während deren Erben das Nachsehen haben. Je eher der Tod eintritt, umso besser für den Fonds; es werden Prämienzahlungen gespart. Man wagt gar nicht, über mörderische Anreize nachzudenken; aber die Kriminalliteratur ist ja voll davon.
Auch die Deutsche Bank entwickelte ein solchen Todeswetten vergleichbares Geschäftsmodell mit Lebensversicherungen von US-Bürgern. Als das 2012 bekannt wurde, rügte der deutsche Bankenverband zwar das Bankhaus, aber rechtlich konnte das Geschäft nicht beanstandet werden.
Man sieht es im Übrigen einem Kontostand nie an, ob seine Erhöhung moralischen Grundsätzen folgt, ob er mit Blut erkauft ist oder ob er Hungertote zur Folge hatte. Geld stinkt bekanntlich nicht.
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