Hand aufs Herz, hätten Sie es gewusst? Welche mehr als tausendjährige Domstadt liegt zwischen den Chemiestandorten Leuna und Buna? Ein Ausflug zu Christi Himmelfahrt oder säkular formuliert eine Herrentagspartie mit unseren Frauen führt nach Merseburg an der Straße der Romanik in Sachsen-Anhalt.
Dem Hotel gegenüber befindet sich der Schlossgarten, ursprünglich als barocke Anlage geplant und später von Peter Joseph Lenné in preußischem Auftrag umgestaltet. Aus dem Garten nach Osten schauend, blicken wir auf die tiefer fließende Saale und weit ins Land. Genau hier wollen wir zunächst picknicken, bevor wir einen privat geführten Stadtrundgang beginnen.
Im Schlossgarten sehen wir neben dem Reiterstandbild des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. ein schlicht gestaltetes Denkmal zur Erinnerung an die Befreiungskriege und die Völkerschlacht von Leipzig 1813, wo Preußen und Russen gegen Franzosen kämpften. Ein Eisernes Kreuz bekrönt eine steinerne Kugel, die wiederum auf einer Säule mit Sockel befestigt ist. Der Standort ist interessant. Hier befand sich ursprünglich ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal (eingeschmolzen schon 1943/44). Nach dem Abriss des Denkmalfundaments kam 1956 das Eiserne Kreuz hierher. Es hatte ursprünglich verschiedene andere Standorte. Dieser Wechsel erfolgte mit Hilfe des sowjetischen Garnisonskommandanten. Das Denkmal mit dem Eisernen Kreuz diente als Sinnbild für die deutsch-russische Waffenbrüderschaft und konnte so in der DDR an dieser Stelle Wertschätzung erfahren.
Nach dem Wiener Kongress 1815 entstand die preußische Provinz Sachsen mit den drei Regierungsbezirken Erfurt, Magdeburg und Merseburg. Die größere benachbarte Stadt Halle wäre auch gerne Hauptstadt des Regierungsbezirkes geworden. Als Versammlungsort für den Provinziallandtag wurde Merseburg bestimmt. Für diesen Zweck wurde später das repräsentative, im Historismusstil erbaute Ständehaus am Rand des Schlossgartens geschaffen.
Wir steigen den Saalehang hinunter, gehen bis zur Saalebrücke und überqueren diese. Dreht man sich jetzt um, erhält man einen Postkartenblick hinauf zum Ensemble aus Schlossgarten, Schloss und Dom auf dem Merseburger Schlossberg. Am Neumarkt besuchen wir die Kirche St. Thomae. Die romanische Kreuzbasilika wurde in einer Urkunde des Kaisers Friedrich I. Barbarossa 1188 erstmals erwähnt und nach dem ermordeten Lordkanzler und Erzbischof von Canterbury, Thomas Becket, benannt. 1177 wurde er heiliggesprochen, so konnte er Namenspatron für die Kirche werden. Einmalig im mitteldeutschen Raum ist die Knotensäule am Hauptportal. Natürlich berühren wir sie in der Hoffnung auf Abwehr des Bösen und auf Glück. In der entweihten Kirche werden heute sakrale Kunstwerke der Gegenwart ausgestellt. Außerdem dient sie als Pilgerherberge auf dem Jakobsweg. Besonders beeindruckt uns die „Grosse Kreuzigungsgruppe vor Roter Wand“ von Klaus Friedrich Messerschmidt, dem bedeutenden mitteldeutschen Künstler. Er schuf ein Triptychon, wie ein Flügelaltar geformt und gedacht als Mahnmal gegen ideologisch begründete Gewalt. Die drei Tafeln bestehen aus den Wänden von ehemaligen Reichsbahnwagons, die zum Transport in die Vernichtungslager dienten. Davor sind elf jeweils auf unterschiedliche Art Gekreuzigte, an die Jünger Jesu erinnernd, befestigt.
Auf dem Weg zu Dom und Schloss kommen wir an der Willi-Sitte-Galerie vorbei. Unser spontaner Einfall, dass wir doch einige Werke Sittes anschauen könnten, geht in die Irre. Die 2006 eröffnete Galerie für realistische Kunst präsentierte Werke von Sitte und anderer Künstler aus seinem Besitz. Die dazu gegründete Willi-Sitte-Stiftung stellte die Ausstellungsstücke zur Verfügung. Das ist nun vorbei. Die Stiftung steht vor der Auflösung. Die Werke gingen ins Eigentum der Erben Sittes über. Nach Jahren erfolgreicher Ausstellungsarbeit hat die Galerie keinen Sitte mehr zu zeigen Es gibt lediglich eine übriggebliebene Ausnahme, sehr großformatig, bestehend aus emaillierten Platten und an der rückwärtigen Hauswand befestigt, die wir dank unseres Stadtführers kurz besichtigen können, da die Galerie wegen eines Ausstellungsumbaus geschlossen ist. Es sind Teile des Monumentalbildes „Kampf und Sieg der Arbeiterklasse“ (9,5 m mal 25 m). Eine Leihgabe der Stadt Suhl.
Vor dem Schloss sehen wir zuerst den Rabenkäfig mit einem Kolkrabenpaar, das die Erinnerung an die bekannte Rabensage um Bischof Thilo von Trotha lebendig hält. Das dreiflügelige Schloss vereint Elemente aus Spätgotik und Renaissance. Den vierten Flügel bildet der Dom. Trotha lies die Anlage im 15. Jahrhundert errichten. Im 17. Jahrhundert gab es tiefgreifende Um- und Erweiterungsbauten, so dass ein monumentales Zeugnis der deutschen Spätrenaissance entstand. Der Dom St. Johannes und St. Laurentius hat inzwischen seine Pforten geschlossen. Wir besuchen ihn am nächsten Vormittag.
Die Dombesichtigung führt uns eindringlich den großen geschichtlichen Rahmen der Domstadt vor Augen. Die Domgründung geht auf ein Gelübde Ottos I. (des Großen) nach seinem Sieg gegen die Ungarn auf dem Lechfeld im Jahr 955 zurück. So entstand das Bistum Merseburg. Es blieb eines der kleinsten in Deutschland bis zu seiner Auflösung in der Reformationszeit. Merseburg wurde zu einer bedeutenden Pfalz ausgebaut. Der von Bischof Thietmar, dem wichtigen Chronisten der ottonischen Zeit, geplante Dom wurde 1021 festlich geweiht. Zu diesem Anlass beschenkte der anwesende Kaiser Heinrich II. das Bistum reich, sicher dessen strategische Bedeutung als sächsische Ostmark bedenkend. Heinrich II. und seine Frau Kunigunde nutzten Merseburg als bevorzugten Pfalzort. Das Herrscherpaar war übrigens das einzige Kaiserpaar im Mittelalter, welches heiliggesprochen wurde. Im Dom finden sich kunsthistorisch außerordentlich bedeutende Schätze. Dazu zählt zum Beispiel die bronzene Grabplatte Rudolf von Schwabens. Er war ein Schwager des Königs Heinrich IV., der noch heute durch den inzwischen sprichwörtlich gewordenen Gang nach Canossa bekannt ist. Hintergrund war der Investiturstreit zwischen dem König des Heiligen Römischen Reichs und dem Papst. Wer hatte die Macht, die Bischöfe einzusetzen? Heinrich erhielt den Kirchenbann. Das war die Gelegenheit für Rudolf von Schwaben, sich zum (Gegen-)König ausrufen zu lassen. Doch Heinrich widerstand. In der Schlacht bei Hohenmölsen im Jahr 1080 wurde Rudolf durch einen Ritter Heinrichs tödlich verwundet. Rudolf starb in Merseburg und wurde im Dom aufgebahrt und bestattet. Die bronzene Grabplatte ist die älteste figürliche Grabplastik seit der Römerzeit in Mitteleuropa. Sie zeigt Rudolf lebensgroß mit den Insignien seiner königlichen Herrschaft. Seine abgeschlagene „Schwurhand“ ist als Reliquie in mumifizierter Form in der Schatzkammer des Doms zu sehen.
Der Dom hat noch Vieles mehr zu bieten, darunter die herrliche Ladegastorgel, eine der größten und klangschönsten romantischen Orgeln Deutschlands, die zum Beispiel Franz Liszt inspirierte, oder die Fürstengruft mit Zeugnissen der barocken Bestattungskultur der Wettiner. Am Chorgestühl mit seinen üppigen Schnitzereien finden wir auch eine bildliche Darstellung von Christi Himmelfahrt. Er hinterlässt nur seinen Fußabdruck. Doch ein pergamentener Schatz aus der Domstiftsbibliothek darf auf keinen Fall unerwähnt bleiben: die Merseburger Zaubersprüche. 1841 entdeckte Georg Waitz in einer liturgischen Handschriftensammlung des 9./10. Jahrhunderts die zwei Zauberformeln. Die neben dem Hildebrandslied bedeutendsten in althochdeutscher Sprache verfassten Texte – von einem Mönch wahrscheinlich in Fulda niedergeschrieben – haben keinen christlichen Bezug, sondern einen auf die germanische Mythologie. Der erste Spruch beschwor die Befreiung eines Gefangenen aus seinen Fesseln, der zweite diente der Heilung eines Pferdefußes. Die Zaubersprüche sind das einzig bekannte althochdeutsche Sprachzeugnis, in dem germanische Gottheiten agieren. Waitz übergab seinen Fund an Jakob und Wilhelm Grimm. Jakob Grimm veröffentlichte die Zaubersprüche 1842 auf seiner Antrittsvorlesung in der Berliner Akademie der Wissenschaften und benannte sie nach ihrem Fundort. Zu sehen sind sie im Handschriftengewölbe des Doms, natürlich nicht im Original, sondern in Faksimile. Vor wenigen Tagen erst wurde ein neuer „Doppelgänger“ der Zaubersprüche im Merseburger Dom der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Hallenser Buchrestauratorin Annette Friedrich versprach, die neue Kopie gleiche dem Original in Bezug auf Material und Form selbst in kleinsten Details.
Wir verlassen den Dom und Merseburg mit der Gewissheit, dass wir manch Sehenswertes übersehen haben. Aber so ist es oft und es macht neugierig auf Zukünftiges. Vielleicht bieten die Merseburger Orgeltage Gelegenheit zu einem erneuten Besuch.
Schlagwörter: Befreiungskriege, Jürgen Hauschke, Merseburger Dom, Merseburger Zaubersprüche, Rudolf von Schwaben, St. Thomae