Um Erfreuliches handelt es sich selten, wenn das Heute von Gestrigem oder gar Vorvorgestrigem eingeholt wird. 1892/93 hatten 16.596 Hamburger die Cholera, 8.605 starben. Nur wenige Jahre zuvor bestand auch für die Insel Skiathos die Gefahr, verseucht zu werden. Wie die Geängstigten sich da gebärdeten, darüber schreibt – zeitlos – der dort geborene und aufgewachsene Alexandros Papadiamantis (1851–1911). Und er schreibt, als dröhne ihm Schillers Glocke im Ohr: Nichts Heiliges ist mehr, es lösen / Sich alle Bande frommer Scheu, / Der Gute räumt den Platz dem Bösen, / Und alle Laster walten frei.
Dass sich Szenarien so gleichen können! Um die Krankheit zu bannen, müssen alle herannahenden Schiffe zunächst bei einem vorgelagerten Inselchen ausharren. Wessen Quarantäne abgelaufen und Befund negativ ist, für den endet die Isolation. Vor Ort der Arzt, ein Deutscher, erfährt höchste Wertschätzung. Hingegen führt zu Ärger und Hohn, dass behördlicherseits zwar strenge Vorkehrungen, aber keine vernünftigen Regelungen für danach getroffen worden sind. Denen, die das auszubaden haben, bleibt nichts anderes übrig, als auf eigene Faust los zu fahren – ohne Gewähr auf freies Geleit.
Dann, noch einiges vom angesteuerten Hafen entfernt, hören sie dort die Glocken Sturm läuten und erleben, wie die Leute herbeistürzen, bereit, mit ihren Schießeisen, Knüppeln, Wurfgeschossen und viel Geschrei ein Anlanden zu verhindern. Papadiamantis setzt – wie zumeist in seinen Erzählungen – auch hier eine Gegenfigur ins Bild: Skevo, eine Witwe, vom Schicksal geschlagen,. Abenteuerlich gewitzt gelingt es ihr, zur Quarantäneinsel überzusetzen, um dort ihren sonst auf den Schiffen im Mittelmeer sein Brot verdienenden Sohn gesund zu pflegen. Ein hohes Lied der Mütterlichkeit.
In einem Land, das ohnehin schon epidemisch notleidet, wirkt sich eine Katastrophe, wie sie hier beschrieben ist, doppelt schwer aus. „Leider sind wir bankrott“, zitiert Andrea Schellinger, Herausgeberin und Übersetzerin, in ihrem Nachwort den damaligen Ministerpräsidenten Charilaos Trikoupis (1893) – inzwischen längst ein geflügeltes Wort.
Papadiamantis seinerseits ist nicht zimperlich damit, griechisch gleichzusetzen mit gerissen sein. Landauf landab machen sich Wucherer ausweglose Not zunutze. Und deren Zinspresserei erscheint auch nicht niedlicher, weil es von jüdischen Krämern im damals noch immer türkisch verwalteten Thessaloniki heißt, sie kaschierten alte Ware, indem sie frische obenauf legten. Gesellschaftliche Konturen lässt Papadiamantis nicht verschwimmen. Einem Adonis gleicht der Hirtenjunge, im Lesen und Schreiben vom Popen unterwiesen. Er kann der Flöte noch so sehnsuchtsvolle Töne entlocken, in die Villa zu seiner Angebeteten wird er niemals vordringen. Und ähnlich lässt eine zärtlich Umschwärmte bei aller Zuneigung sich um nichts in der Welt auf ihren Verehrer ein, einen Studenten mit ungewisser Zukunft. Oder: heroisch überwindet der junge Seemann seine Seelenpein und lässt das Boot samt Jungendliebchen, die einem anderen verheiratet wurde, auf der Fahrt in die Fremde nicht kentern.
Die Sympathie des Erzählers gehört unverkennbar den Benachteiligten, Geplagten, Schwachen. Ohnehin verschafften dem heute viel Gelesenen seine Veröffentlichungen zu Lebzeiten auch selbst keine auf Rosen gebettete Existenz. Ein Künstlerschicksal wie so viele, nicht nur in Athen. „Erotiker par excellence“, malt er voll Hingabe mit Worten auch die Schönheiten seiner Inselheimat: die Klippen, Schluchten, das Meer. Rauhe Schönheiten, nichts Idyllisches. Da hätten adäquate Illustrationen dem fein gestalteten Buch unbedingt zu einem Augenschmaus verhelfen können. Dass der Elfenbeinverlag, gerade wieder mit einem Verlegerpreis beglückt, sich – nach dem Roman „Die Mörderin“ – mit dieser Auswahl von Erzählungen, darunter erstmals stimmig ins Deutsche gebrachten, abermals diesem griechischen Klassiker gewidmet hat, ist allerdings überaus erfreulich.
Alexandros Papadiamantis: Wunschtraum in den Wellen. Erzählungen, Elfenbein Verlag, Berlin 2022, 256 Seiten, 19,00 Euro.
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