25. Jahrgang | Nummer 10 | 9. Mai 2022

Ein Sommer in Siebenbürgen

von Jens Langer

Stehenden Fußes langt Buchhändler Jens Kielhorn mit der linken Hand in ein Regal und überreicht mir die Neuauflage des dritten Bandes von Fabinis Architekturgeschichte der siebenbürgischen Kirchenburgen. Mein Exemplar war mir abhandengekommen. Ich blieb noch ein Stündchen im angeschlossenen Erasmus-Café bei einem Latte Macchiato. Hier im Teutsch-Haus von Hermannstadt/Sibiu kann sich der fremde Gast zu Hause fühlen und sein Bild vom Land korrigieren, bekräftigen oder erweitern – je nach Bedarf. Viele Möglichkeiten tun sich in diesem Literaturzentrum auf. Gern kommen auch Eltern mit ihren Kindern hierher; denn neben Archiven und Büchern gibt es ebenso einen familienfreundlichen Spielplatz. Auch das gehört zu Siebenbürgen in Rumänien.

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Die Hermannstädter Zeitung meldet freitags die Gottesdienste in der Region. Dazu gehört auch Rothberg/Rosia. Hier lebt der Schriftsteller Eginald Schlattner (geboren 1933), der 50. Pfarrer hierorts seit der Reformation – und längst im Ruhestand. Im März 2022 hat er beantragt, auch seine Nebentätigkeit als Gefängnisgeistlicher aufgeben zu dürfen. Die Zeitung vermeldet den Gottesdienst in Rothberg mit einem Zusatz: „dt.(rum.), 12 Uhr“. Schlattner erzählt im Internet und bei persönlichen Begegnungen oft und gern davon. Da nur noch drei evangelische Greise im Dorf leben (von denen Schlattner gerade so mobil ist), bleibt es bis zuletzt spannend: Wer wird den Gottesdienst mitfeiern? Eine internationale Busladung von Teilnehmern am literarischen Tourismus, „dunkle Geschwister vom Bach“ (E.Sch.), einzelne Personen von wer weiß woher? Im August 2021 haben sich auf dem Kirchhof zwei Paare aus Lothringen und Schwaben, eine rumänische Familie mit Sohn und schließlich meine Frau und ich eingefunden. Wir gehen in die geöffnete Kirche, alle anderen warten auf den Pfarrer, wie hier üblich. Gotteshaus und Pfarrhof strahlen übrigens in frischen Farben – der Verkauf der ungenutzten evangelischen Schule machte es möglich. Um 12.15 Uhr betritt Eginald Schlattner mit den Genannten die Kirche. Er bittet, dem Altar nahe Plätze einzunehmen, entdeckt dabei uns beide aus Rostock und freut sich über die Wiederbegegnung. Am Talar trägt der Geistliche das jüngst verliehene „Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland“. Verkündigt wird zunächst in rumänischer Sprache. Die einheimische Familie kniet danach an Altar nieder, wird gesegnet und verlässt den Gottesdienst. Die Predigt wird auf Deutsch neu begonnen. Nach dem letzten Amen bittet das hessische Paar um den persönlichen Segen unter Handauflegung, die Bitte wird erfüllt. Beim Auszug interpretiert Schlattner nebenbei seine Präsentation des Ordens (mit Augenzwinkern): Wenn er diesen nicht jetzt trüge, würde die Auszeichnung ihm erst wieder öffentlich auf einem Samtkissen vorangetragen – bei seiner Beerdigung.

Als wir wieder vor die Kirche treten, werden wir allesamt zum Kaffee im Pfarrgarten eingeladen. Liebevoll dekorierte und angeordnete robuste Holztische erwarten uns. Die Gespräche drehen sich um die Herkünfte der deutschen Gäste. Im Hintergrund ist die Regie der orthodoxen Ordensfrau zu spüren, die den Haushalt führt. Die Einladung zum Mittagessen müssen wir aus Termingründen mit Bedauern ablehnen. Alle anderen bleiben gern.

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In Alzen/Altina wird ein Musical aufgeführt, das Studierende mit Kindern und Jugendlichen aus den Dörfern der Region inszeniert haben. Wir wollen durch unsere Teilnahme diese Initiative unterstützen. Wie sich in der Festhalle zeigte, wäre das nicht unbedingt nötig gewesen: Eltern, Geschwister und Freunde der Jungsänger und -schauspieler aus den umliegenden Dörfern trafen sich allesamt froh und aufgeregt zur Premiere. Und wir freuten uns mittendrin über die Präsenz von Jung (vor allem) und Alt aus allen transsilvanischen Völkerschaften bei dieser Uraufführung. Die Halle war materiell und spirituell vom Geist der Aktualität und gegenwärtigen Erneuerung der multikulturellen Gemeinschaft erfüllt, die ansonsten jede Menge Konflikte kennt. Und wir waren dabei – begeistert, dankbar, hoffnungsvoll, und das alles ohne Sprachkenntnisse. Der Funke Hoffnung war bei Proben und Aufführung übergesprungen und nun auch auf uns Touristen. Die Leiterin des deutschsprachigen Schulzweiges in Alzen/Altina sprach dem Ensemble den Dank aller Anwesenden aus. Rosi Müller, im Ehrenamt engagierte Kuratorin der Evangelischen Kirchengemeinde Alzen, nannte in ihrer Dankesrede die großartige Gesamtleistung nebst der hinreißenden Präsenz einzelner Protagonisten und trug so die Begeisterung weiter. Übrigens auf Deutsch.

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Monica (20) hat als Kind in Holzmengen/Hosman gelebt. Inzwischen hat sie sich zur Gebärdendolmetscherin ausbilden lassen. In dieser Sprache kommuniziert sie mit ihren Eltern. Ihre Sorge richtet sich derzeit auf die erfolgreiche Wiederholung einer Abiturprüfung. Jetzt hat sie das Holzstock-Festival, ein Jugendtreffen auf der Kirchenburg, hierhergelockt. Übers Fest hinaus gelten Dank und Freude darüber, wie sie und ihre Eltern hier akzeptiert und freundschaftlich gefördert worden sind. „Das ‚Blaue Haus‘ tut meiner Seele gut“, sagt sie beim Anblick des Hauses ihrer Gastgeber, die sich seit zwanzig Jahren für die Entwicklung der ländlichen Region im Harbachtal einsetzen und von denen die Initiative zur Gründung der lokalen Kooperative „Longo mai“ ausging, die international vernetzt ist. Moni, die Ungarin, will bleiben und sich zusammen mit der internationalen Crew für Nachhaltigkeit und Solidarität in Dorf und Region einsetzen.

„Die 19. Brücke“ heißt das Theaterstück, das rumänische und ukrainische Jugendliche im Hermannstädter Kiez-Theater „Bis“ aufführen. 18 Brücken über die Theiß verbanden einst Rumänien und die Ukraine. Organisiert hat die Aufführung der Verein „Molotok“ (Hammer): Es braucht mehr Brücken zueinander. Mit dem Zusammenspiel der Jugendlichen haben die Akteure aus der Kooperative im ukrainischen Nischnje Selitsche und „Longo mai“ Holzmengen die 19. Verbindung zwischen ihren Ländern geschaffen.

Als Russland die Ukraine mit Krieg überzieht, zeigt sich die Bedeutung der 19.Brücke. Die Kooperative mit dem schwer aussprechbaren Namen in Transkarpatien wird zum Fluchtziel für Frauen und Kinder aus anderen Teilen der bombardierten Heimat. Die Akteure sind überfordert. Doch es gibt die 19.Brücke! Tudor, Pionier und Aktivist der Geflüchtetenhilfe, berichtet: „Inspiriert wurden wir von unserer Freundin Gabi aus Hosman, die seit Beginn des Krieges ihr Auto mit allem füllte, was sie zu Hause hatte, und zur Grenze eilte. Allein fuhr sie (kindliche Zeugin der Gewalt 1989 in Bukarest – J.L.) stundenlang und überquerte die Grenze in ein Land, das sich im Krieg befand. Und sie tat ihr Bestes, um ihren Freunden in der Kooperative „Longo mai“ zu helfen. Wenn Gabi allein helfen konnte, war ich überzeugt, dass auch wir es trotz aller Schwierigkeiten schaffen würden. (…) Das Team von „Hosman Durabil“ (Nachhaltiges Holzmengen), einer Gemeinschaftsorganisation in einem schönen und ruhigen Dorf im Kreis Sibiu, wurde zum Mittelpunkt der Aktion.“ Und bei alledem ist Moni geblieben und zugleich weitergegangen über die 19. Brücke.