Am Nachmittag, gegen 15 Uhr, beginnt die große Kurpromenade vor der Mühlbrunnkolonnade in Karlovy Vary (Karlsbad). Weiße Bänke, gestutzte Bäume, Kioske mit Unmengen von speziellen Trinkbechern (bemalt mit Stadtansichten, Marylin Monroe, Micky Mäusen bis hin zum Meissner Zwiebelmuster). Kurgäste im Schlenderschritt, das Heilwasser der Quellen Schluck für Schluck trinkend; Damen im neuesten Look gekleidet, wie auch ihr Hündchen, das sie zur Vervollständigung ihrer Erscheinung auf dem Arm tragen, Bewunderung heischend. – Möpse, Pinscher, Zwergpudel, Windhunde, obwohl brav angeleint, heben unbekümmert das Bein am denkmalgeschützten Kolonnadenbau. Zwischen den Säulen der 132 Meter langen Wandelhalle jagen sich die Kinder, greifen in die Quellwasserbecken, um eine Wasserschlacht zu veranstalten … und schreien laut auf: „Heiß, heiß!!“ (die Temperaturen der Mineralquellen reichen von 39,6 bis 73,0 ⁰ Celsius)
Vor den kleinen Cafés gegenüber sind die Stühle besetzt, konditorale Köstlichkeiten werden serviert. Ein Jugendchor singt in sauberer Dreistimmigkeit und wird ausgiebig mit Beifall belohnt. Die schmuckvollen Villen und Kureinrichtungen, die Hänge hinaufgebaut, schauen verwundert und eitel auf das bunte Treiben.
Die Häuserreihe in der Vřidelni (Sprudelstraße), entlang dem rechten Ufer der Teplá (Tepl), die durch die Stadt fließt, trägt elegante, stilvolle Schaufassaden in zarter Farbigkeit. Le Corbusier, der Architekt über die Karlsbader Architektur: „Die größte Einheit und den größten architektonischen Reiz hat in der Tschechoslowakei Karlsbad.“
Kutschen rollen durch die Sprudelstraße. Die Gespannführer laden ein mitzufahren. Etwas verschüchtert steht zwischen den Prachtbauten das „Hotel Petr“. Ein altes, kunstvoll verziertes Fachwerkhaus. Als es noch „Gasthof Goldener Ochs“ hieß, nahm hier Zar Peter I. im Jahr 1711 Quartier. Eine Gedenktafel erinnert daran.
Karlsbad – Stadt der vielen temperierten Mineralquellen. Mehr als siebzig sprudeln, wovon zwölf gefasst und zu Heilzwecken genutzt werden. Stadt der vielen Gedenktafeln und der berühmten Gäste. Ihre Zahl durch die Jahrhunderte hindurch ist schier ohne Ende. – Eine Berühmtheit stand am Anfang: Karl IV. König von Böhmen und römisch-deutscher Kaiser. Und Stadtgründer! Dies geschah im Jahr 1370. Nunmehr zählt Karlsbad als UNESCO-Welterbe zu den bedeutenden Kurstädten Europas.
Besucher, die sich Gesundung erhofften, kamen (und kommen) aus unterschiedlichen Ländern und Bereichen, aus Politik, Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft. Allenthalben ist an Häusern zu lesen: „Hier wohnte …“ Im Museum der Stadt kann man eine Zusammenstellung der Kurgäste einsehen. Überraschung und Erstaunen sind groß. Eine bescheidene Auswahl sei erlaubt: Maria Theresia, die Kaiserin, Leberecht Blücher, Clara Schumann, I. P. Pavlov, der Physiologe, Sigmund Freud, Chopin, die russischen Literaten Gogol und Turgenev, Richard Wagner, Egon Erwin Kisch, der „Rasende Reporter“, Heinrich Schliemann, Schiller mit Frau und Schwägerin. Und natürlich Johann Wolfgang Goethe, der nach eigener Aussage nur in Rom, Weimar und Karlsbad leben mochte.
Statistik: Dreizehn Besuche zwischen 1785 und 1823 in Karlsbad. Fünf Häuser der Stadt sind als Aufenthaltsorte mit ihm verbunden. Im „Café Elefant“ feierte Goethe seinen 37. Geburtstag (1786); und im Jahr 1818 beging er in Karlsbad sein Wiegenfest versehentlich einen Tag zu früh, was er mit der deftigen Bemerkung kommentierte: „Donnerwetter! Da habe ich mich umsonst besoffen.“ (Herr Geheimrat, das war nicht comme il faut!)
In der warmen Nachmittagssonne gehe ich durch die Lázeňská (Kurstraße) zum Markt. Vorbei an kleinen Läden, Schmuckauslagen und kunterbunten Souvenirgeschäften. Touristen machen sich auf die Besonderheiten der Baustile aufmerksam: Historismus und Jugendstil, mit Bedacht eingefügt in noch vorhandene ältere Bausubstanz. Das „Haus drei Mohren“, Goethes wohl beliebtestes Domizil. Neunmal kehrte er bei der Zinngießerfamilie Heilingötter ein. – Die reich mit Rokoko-Elementen verzierte Eingangspforte flankieren zwei der drei Mohren. Eine Überschrift verkündet: „Durch diese Tür schritt Goethe.“ Ich wäre auch gern hindurch geschritten, um mich vom Geist des Dichters umwehen zu lassen – doch sie ließ sich nicht öffnen. Verschiedene Tafeln geben Auskunft über Goethes Anwesenheit, und ein nebenstehendes Dankeswort des Geheimrats gleicht einem ehrlichen Bekenntnis: „Ich bin dieser Quelle eine ganz andere Existenz schuldig. J.W.G.“ Es möge genützt haben.
Wenige Schritte entfernt, am „Hotel Mozart“, finde ich den nächsten Hinweis: „Hier wohnte Goethe 1786“. Zur Ergänzung hat man eine Plakette angebracht, die J.W.G. im Halbprofil darstellen soll. Stünden nicht seine Lebensdaten dabei, so hätte ich ihn nicht für den Poeten aus Weimar gehalten.
Die Stadt verwirklichte eine überzeugende Idee, die gleichsam den Blick in die Vergangenheit gewährt. Steintafeln mit den früheren Namen der Häuser, die einst hier standen oder noch stehen, sind in das Straßenpflaster eingelassen. Die fantasievollen Bezeichnungen heißen zum Exempel: Goldener Pelikan, Grüne Melone, Drei Schwalben, Zwei Meerfräulein, Zwei rote Rosen (vor dem „Hotel Mozart“), Schöne Königin.
Der nächste Goethe-Fundort ist ein Neubau anstelle des abgerissenen „Haus Strauß“ und heißt nun – Irritation – „Goethe’s Beer House“. Stimmengewirr, Musik und Geruch nach Speisen dringen heraus. – Es war Goethes letzter Aufenthaltsort (1823) in der Stadt; in die er nie wieder zurückkehrte.
Ich rette mich in das „Café Elefant“ und tröste mich mit einer guten Tasse Kaffee und Goethes Widmung an Karlsbad: „Was ich dort gelebt, genossen, / Was mir all dorther entsprossen, / Welche Freude, welche Kenntnis, / Wär ein allzulang Geständnis! / Mög’ es jeden so erfreuen, / Die Erfahrenen, die Neuen!“
Schlagwörter: Goethe, Karlovy Vary, Renate Hoffmann