25. Jahrgang | Nummer 9 | 25. April 2022

Paul Gauguin dekonstruiert

von Alfred Askanius

Das 19. Jahrhundert mit seinem zwanghaften Drang zu romantisierender Überhöhung bescherte uns eine Mythisierung des Künstlers, die in der Regel in diametralem Gegensatz zu seiner Honorierung stand. Künstler und Werk wurden in einem jeglicher Realität widersprechenden Maße gleichgesetzt. Im 20. Jahrhundert gelang es, dieses Bild wenigstens in Ansätzen aufzubrechen. Das Kunstwerk durfte für sich sprechen. Es erwies sich, dass es nur in den seltensten Fällen biografischer Detailkenntnis seitens der Rezipienten bedurfte. Im Gegenteil. Es wurde Mode, den Künstler, den Dichter – ich verwende jetzt bewusst das generische Maskulinum – „vom Sockel“ zu holen. Auch wenn er, respektive sie, niemals auf einem solchen stand. Der Künstler war halt ein ebenso erbärmlicher Wurm wie du und ich …

Das Kunstwerk blieb auf diesem Wege sakrosankt und wurde ein weiteres Mal überhöht. Der Kunstmarkt tat das Seinige hinzu. Um es bildlich auszudrücken: Die erschütternde Gretchen-Tragödie im „Faust I“ ist auch für radikale Feministinnen positiv rezipierbar. Der Autor selbst bleibt das frauenverachtende und -missbrauchende Schwein. Das gilt auch für die bildende Kunst.

Inzwischen erleben wir einen weiteren Paradigmenwechsel. Das Stichwort heißt „Kontextualisierung“. Im Ergebnis wird das Kunstwerk selbst für die Fehlleistungen seines Schöpfers bestraft und verdammt. Die Austreibung Emil Noldes aus dem deutschen Kanzleramt steht beispielhaft für diesen Vorgang. In Paris erwischt es gerade Pablo Picasso. In Berlin ist derzeit Paul Gauguin wieder einmal in das Schussfeld der Aufarbeiterinnen und Aufarbeiter geraten. Wobei Gauguin, dem der traditionelle Geniekult bislang hauptsächlich dessen miesen Umgang mit Vincent van Gogh vorwarf, sich einem dreifachen Vorwurf ausgesetzt sieht: Der Selbstmythologisierung als „Wilden“ – geflissentlich ignoriert wird die selbstironische Distanz des Künstlers diesem Begriff gegenüber, einem sexistischen Frauenbild – übersehen wird, dass gerade bei seinen polynesischen Arbeiten die Geschlechtergrenzen durchaus fließend erscheinen. Gauguin selbst wurde zum Lieblingszielobjekt der zeitgenössischen Bigotterie. Und last but not least wirft man ihm den kolonialen Blick des Europäers vor, der die Indigenen auf erbarmungslose Weise der eigenen bildlichen Identität beraubt. Gauguin ist offenbar voll zwischen die Mühlsteine der grotesken Berliner „Decolonize-Debatte“ geraten.

Die Rede ist von der aktuellen Schau „Paul Gauguin. Why you are angry?“ in der Alten Nationalgalerie. Deren Ankündigung war vielversprechend: Gauguins Arbeiten gleichsam im Dialog mit aktuellen künstlerischen Positionen aus dem Südpazifik. Eingehalten wird wenig. Im Kern geht es um die „Dekonstruktion des Mythos Gauguin“, so der Titel des Aufsatzes von Museumsdirektor Ralph Gleis im Katalog. Das ist die wiederholte Erfindung des Fahrrades. Die Jahrhundertausstellung „Paul Gauguin. Das verlorene Paradies“ der Staatlichen Museen von 1998/1999 wird tapfer ignoriert. Nun handelt es sich bei der Exposition im Wesentlichen um eine Übernahme aus der „Ny Carlsberg Glypotek“ in Kopenhagen. Was interessiert dort der Berliner Arbeitsstand … Aber dass sich eine Berliner Institution mitnichten für den Forschungsstand im eigenen Lande interessiert, ist schon ärgerlich.

Der kolonialen Verwüstung Tahitis und der Gesellschaftsinseln, der Konfrontation des „Mythos Tahiti“ mit der Realität stellten sich schon 1987 auf eine bemerkenswerte Weise die Stuttgarter Museen im Rahmen ihres Ausstellungsprojektes „Exotische Welten – Europäische Phantasien“. In den geradlinigen Verriss der europäischen Annexion Tahitis von Bougainville über James Cook bis hin zur Konstruktion der französischen „Übersee-Departements“ passt natürlich eine Erscheinung wie Georg Forster nicht hinein, der als Teilnehmer der zweiten Cookschen Weltumseglung 1772–1775 ein aufmerksamer Beobachter der tahitianischen Ereignisse war – und sie durchaus anders bewertete als Cook selbst. Auch auf der Grundlage dieser Erlebnisse wurde Forster zum erbitterten Feind der rassistischen Grundlinie der europäischen Aufklärung. Dass dies in der Exposition ignoriert wird, ist besonders ärgerlich. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz verfügt über wichtige Teile des Forsterschen Nachlasses.

Überhaupt wäre – Nikolaus Bernau bemerkte das in der Berliner Zeitung – ein Zusammengehen zum Beispiel mit dem Ethnologischen Museum im Humboldt-Forum gewinnbringend gewesen. So ist auch die Gauguin-Schau ein weiterer Beleg für den Unwillen der Staatlichen Einzelmuseen, ihren gehabten Partikularismus aufzubrechen. Aber es handelt sich ja um eine Übernahme aus Kopenhagen …

Die Kopenhagener Kuratorin Anna Kærsgaard Gregersen, die auch den Haupttext des Kataloges verfasst hat, bemühte sich eifrig – unter „Berücksichtigung der aktuellen post-kolonialen Debatten“ – „der Erzählung von Paul Gauguin neue Perspektiven hinzuzufügen und neue Wege zu ihrem Verständnis aufzeigen zu können“. Wie weit ihr das gelungen ist, möge jeder selbst entscheiden. Ihr Aufsatz enthält durchaus Unsinn. Aufgabe der James Cook begleitenden Künstler war es mitnichten, „die kolonialen Errungenschaften Großbritanniens“ zu dokumentieren. Und Patricia O’Brien irrt, wenn sie meint, die Meuterer der „Bounty“ hätten vor allem sexuelle Motive gehabt. Übrigens warfen sie nicht, wie von der Autorin behauptet, den Kapitän William Bligh „und alle, die ihm loyal waren, auf hoher See über Bord“. Bligh und seine Getreuen überlebten.

Gregersens „Erzählung“ halte ich für einen ausgezeichneten Beleg dafür, dass aus der identitätspolitisch und protestbewegten europäischen – ich beziehe hier die US-amerikanische dezidiert mit ein – Sicht kein Blumentopf zu gewinnen ist. Das Gegenteil des kolonialen Blicks ist ein sehr subtiler postkolonialer, der ist keinen Deut besser. Die auf der Pressekonferenz gestellte Frage, warum man sich denn nicht wenigstens in Sachen aktueller polynesischer Kunst die Mitarbeit dortiger Kuratoren gesichert habe, wurde seitens der Veranstalter mit Schweigen übergangen. Der Korrespondent der Fuldaer Zeitung konnte sich so den Vorwurf, man pflege eine „gewisse Gehässigkeit gegenüber Gauguin“, nicht verkneifen.

Erfreulich ist die in der Alten Nationalgalerie mögliche Wiederbegegnung mit herausragenden Arbeiten Paul Gauguins, vor allem aus den Kopenhagener Beständen. Der Dreiklang des 1891er Bildes „Vahine no te Tiare (Frau mit Blume)“ aus Kopenhagen mit dem Dresdener „Parau Api (Gibt’s was Neues?)“ von 1892 und den „Tahitianischen Frauen“ (1891) des Musée d’Orsay und deren Entstehungsgeschichte sagt mehr über die „Ärgernisse“ des auf den Inseln der Südsee erfolgten Kultur-Crashs aus als manch gelehrter Katalogaufsatz. Wer mehr wissen möchte, sollte sich in die Bibliothek begeben. Dort kann man sich auch gründlicher mit den in der Ausstellung präsentierten Gedichten Henri Hiros und Selina Tusitala Marshs auseinandersetzen. Deren „Typen wie Gauguin“ ist ein großartiges Gedicht, Gauguin tut Marsh allerdings Unrecht.

Ansonsten: Nähmen die Staatlichen Museen ihre verbalen Verkündigungen wirklich ernst, gäben sie das in ihrem Besitz befindliche Gauguin-Gemälde „Tahitianische Fischerinnen“ (1891) als Dauerleihgabe nach Papeete. Das dortige Gauguin-Museum ist seit Jahren geschlossen. Offensichtlich auch, weil es außer mehr oder weniger gelungenen Gauguin-Kopien kaum etwas zu zeigen hat. Auf Hiva Oa (Marquesas) ist immerhin noch sein Grab erhalten. Allerdings lassen sich die Wirkungen der Untaten der französischen Kolonialpolitik nicht von Berlin aus lindern. Man soll auch nicht so tun, als könne man das. Das muss schon Paris machen. Mit Samoa sieht das schon anders aus.

Paul Gauguin. Why Are You Angry? – Alter Nationalgalerie, Museumsinsel Berlin, bis 10. Juli 2022, dienstags bis sonntags 10 bis 18 Uhr; Katalog.