25. Jahrgang | Nummer 9 | 25. April 2022

Lasst uns leichtfertige „Antisemitismus“-Anschuldigungen beenden

von Joshua Shanes

Amnesty International veröffentlichte vor einigen Wochen einen umfassenden Bericht über die Lage in Israel und Palästina. Wie schon frühere Berichte von Human Rights Watch, Yesh Din und B’Tselem – führende Menschenrechtsorganisationen, die Israels Behandlung der Palästinenser gemeinsam mit palästinensischen Organisationen wie Al-Haq und Al Mezan dokumentieren – kommt Amnesty dabei zu dem Schluss, dass Israel sich des Verbrechens der Apartheid schuldig gemacht hat: einer Kategorie internationalen Rechts, die nach dem alten südafrikanischen System benannt ist, über diesen spezifischen Fall jedoch hinausgeht.

Die Grundlage für diese Anschuldigung ist umfassend und ausführlich dokumentiert. Die Vorwürfe umfassen umfangreiche und andauernde Enteignungen von Land und Eigentum, rechtswidrige Tötungen und Verhaftungen, die Verweigerung grundlegender Rechte und Freiheiten, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und vieles mehr. Einige dieser Vorwürfe – insbesondere die anhaltenden Verbrechen in der West Bank – sind allgemein bekannt.

Amnesty geht jedoch über frühere vergleichbare Berichte hinaus, indem es dokumentiert, wie Israel einige dieser Verbrechen seit seiner Gründung 1948 begangen hat. Amnesty fordert Israel auf, sich zu reformieren, um das Völkerrecht einzuhalten und dafür zu sorgen, dass früheren Opfern Gerechtigkeit zuteil wird.

Wie erwartet haben die israelische Regierung und diverse Organisationen in den USA – und auch in Deutschland –, die deren Argumente nachplappern, Amnesty daraufhin als „antisemitisch“ und den Amnesty-Bericht als „verleumderisch“ betitelt. Sie verharmlosten damit dessen schwerwiegende Vorwürfe und missbrauchten sie dazu, Dinge zu beschreiben, die ihnen schlicht nicht gefallen. Kaum eine der Parteien ging dabei auf die tatsächlichen Belege des Amnesty-Berichts ein. Die Antwort scheint eine Kurzschlussreaktion zu sein, fast identisch mit der Reaktion auf andere Berichte wie die von Human Rights Watch oder B’Tselem.

Amnesty International veröffentlichte jüngst auch Berichte über den Einsatz von Streumunition durch Russland im Angriffskrieg auf die Ukraine und verurteilte die wiederholten Verstöße Russlands gegen das Völkerrecht – etwa durch systematische Angriffe gegen Zivilisten. Dass jene Berichte seitens Israel und genannter Organisationen nicht ähnlich stark kritisiert wurden wie Amnestys Israel-Bericht, spricht dafür, dass die Kritik an letzterem einer einseitigen politischen Verpflichtung folgte.

So reagierten israelische Regierungsvertreter etwa mit der Behauptung, dass alle Bürger in Israel die gleichen Rechte genießen würden. Dies ist jedoch nicht nur in der Praxis und dem Gesetz nach falsch – sondern letztlich auch ein Zirkelschluss, der dem Problem ausweicht, dass Juden, die in der Westbank leben, Bürger Israels sind, Palästinenser aber nicht. Das ist so, als würde man im Vorbürgerkriegs-Amerika behaupten, dass alle Bürger gleich seien, und dabei die Tatsache ignorieren, dass Millionen von Afroamerikanern in den Sklavenstaaten keine Bürger waren.

Die amerikanischen Gruppen, die Amnestys Israel-Bericht kritisierten, gingen in einer gemeinsamen Erklärung ausführlich auf die Unterschiede zwischen Israel und Südafrika ein. Dabei ignorieren sie, dass sich das Verbrechen der Apartheid von dem spezifischen Fall in Südafrika unterscheidet, nach dem es benannt wurde.

Es ist an der Zeit, derart leichtfertige „Antisemitismus“-Anschuldigungen zu beenden. Es handelt sich dabei um eine Taktik, die den Begriff abwertet und vom Kern der Sache ablenkt. Stattdessen müssen wir uns auf die eigentlichen Probleme konzentrieren – insbesondere auf die anhaltenden Verbrechen im Westjordanland.

Anstatt lediglich alte Argumente zu wiederholen, mit denen die Ergebnisse einer renommierten Menschenrechtsorganisation schlicht abgetan werden, hätten diejenigen, die sich gegen den Vorwurf der Apartheid wehren, die Zeit nutzen können, um sich kritisch mit der endlosen Liste zutiefst alarmierender Entwicklungen in Israel und Palästina auseinanderzusetzen: von fast täglicher Siedlergewalt, die oft mit Unterstützung der IDF geschieht, über neuere Enthüllungen zum Massaker von Tantura im Jahr 1948 bis hin zu regelrechten Hetzkampagnen gegen palästinensische Gemeinden.

Dies sind die Arten von Verbrechen, die Amnestys Bericht zugrunde liegen, ebenso wie umfassendere historische und rechtliche Probleme, von Beschlagnahmungen und Umverteilung palästinensischen Eigentums durch Israel seit 1948 bis zum Nationalstaatsgesetz 2018. Dennoch erkennen Gruppen diese Probleme nur selten als solche an, geschweige denn, dass sie darüber diskutieren, wie man sie bezeichnen sollte.

Ist die Behauptung von Amnesty, Israel sei ein Apartheidstaat, eine Übertreibung? Gelehrte und Laien, die in gutem Glauben dazu arbeiten, sollten in der Lage sein, dies ohne Schmähungen, persönliche Angriffe oder durchschaubare Ablenkungsmanöver zu diskutieren. Fest steht: die Beweislage im Westjordanland ist erdrückend.

Ob die Beweise, die Amnesty in Bezug auf das israelische „Kernland“ für die sehr unterschiedliche Behandlung, Rechte und Möglichkeiten für Juden und Palästinenser seit der Staatsgründung vorgelegt hat, als Apartheid zu bezeichnen sind oder nicht, darf doch zumindest diskutiert werden.

Die Ablenkung durch überzogene Angriffe seitens Israel muss aufhören. Weder Amnesty noch eine der anderen Organisationen, die auf diese strukturelle Ungleichheit hinweisen, haben die „Auslöschung“ Israels gefordert. Sie haben lediglich eine Umstrukturierung des Landes in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht verlangt. Wer nun einwendet, dies würde Israel zu einem binationalen Staat machen, ignoriert, dass dies vor Ort bereits der Fall ist, dass aber nur eine nationale Gruppe unter israelischer Kontrolle volle Rechte und Schutz genießt. Kein Staat – ganz gleich, wie gerecht seine Gründung sein mag – hat das Recht, auf der Grundlage der Unterdrückung anderer oder der Vorherrschaft einer ethnischen Gruppe über eine andere zu existieren. Diese Situation anzuprangern und sich ihr zu widersetzen, ist kein Antisemitismus.

Wer glaubt, dass die Bezeichnung Apartheid im israelischen Kontext falsch sei, sollte auf die einzelnen Vorwürfe eingehen – sie nacheinander widerlegen oder kontextualisieren – und erklären, warum diese Bezeichnung nicht zutrifft. Vielleicht ist es schlicht unangenehm zuzugeben, dass die ehrlichste Widerlegung darin besteht, dass man einen kriminellen Status quo verteidigt: das System der Unterdrückung im Westjordanland und die überlegenen Rechte der jüdischen Bevölkerung in Israel. Vielleicht ist es einfacher, „Antisemitismus“ zu schreien, als ein Argument zu nennen, denn es gibt keins – oder zumindest kein gutes.

Die in Israel lebenden Juden haben ein Recht auf ein selbstbestimmtes, freies und sicheres Leben. Aber das gilt auch für alle anderen, die dort leben. Die Palästinenser haben das gleiche Recht auf Selbstbestimmung, Freiheit und Sicherheit, woran es so vielen von ihnen derzeit mangelt – vor allem an Sicherheit. Das Eintreten für die Rechte der Palästinenser und für ein demokratisches Israel mit Antisemitismus zu verwechseln, pervertiert den Vorwurf und untergräbt den legitimen Kampf dagegen.

Kürzlich hat der amerikanische Senat Deborah Lipstadt zur Antisemitismus-Beauftragten des Außenministeriums ernannt. Wir sollten diese Gelegenheit nutzen, um uns auf die tatsächlichen Bedrohungen zu konzentrieren, denen jüdische Menschen heute ausgesetzt sind. Um das Engagement der USA für eine pluralistische, multiethnische Demokratie als die Regierungsform zu bekräftigen, die es der jüdischen Bevölkerung wie auch anderen Gruppen am besten ermöglicht, sich zu entfalten. Und um uns dazu zu verpflichten, dem falschen Antisemitismus-Vorwurf entgegenzutreten, indem wir uns für die Gleichberechtigung der Palästinenser einsetzen.

Übersetzt von Hanno Hauenstein.

Joshua Shanes ist Professor für Jüdische Studien und Direktor des Arnold Center for Israel Studies am Charleston College in South Carolina. Er hat in zahlreichen Publikationen über moderne jüdische Politik, Kultur und Religion sowie über zeitgenössische Politik veröffentlicht. Dieser Beitrag erschien ursprünglich bei Religion Dispatches in englischer Sprache.

Berliner Zeitung (Online), 26.03.2022. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.