25. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2022

Zu diesem Heft

Auch diese Ausgabe widmet sich schwerpunktmäßig Putins Krieg gegen die Ukraine. Zugleich versuchen unsere Autoren den Blick auf die durch diesen offensichtlich beschleunigte Verschiebung der globalen Machtverhältnisse zu richten. Es ist ein zuvörderst politischer Blick. Die wirtschaftlichen Langzeitfolgen werden uns zunehmend beschäftigen müssen. Während sich bei uns die Begehrlichkeiten von Hamsterern auf Sonnenblumenöl und neuerdings Speisesenf richten, droht angesichts der bevorstehenden Lieferausfälle von Getreide im Osten Afrikas – verstärkt durch die seit drei Jahren anhaltende Dürre – eine Hungersnot von seit langem nicht dagewesenem Ausmaß. Während in der Ukraine bildlich gesehen der Säbel seine blutige Ernte einfährt, wird er in anderen Weltgegenden wieder mehr oder weniger offen geschliffen … Da fällt es zunehmend schwerer, die in linken Kreisen immer noch heiß geliebten Debatten – oft eine bloße Abgabe als sakrosankt erklärter Statements – über „Kontextualisierungen“, die „historische Einordnung“ oder gar die „Ursprungs-Schuld“ zu ertragen. Der Phantomschmerz über den Untergang des realen Sozialismus ist wohl immer noch heftig. Fast unmöglich scheint dagegen die Einsicht zu sein, dass der größte Nachfolger der Sowjetunion ein oligarchisch geprägtes Staatswesen ist, das mitnichten einen ideologischen Widerpart zum Westen bildet – sondern inzwischen mindestens eine diesem ebenbürtige imperialistische Politik betreibt.

Es stimmt, auf den Tag genau vor 23 Jahren – heute ist der 24. März – fielen die ersten Bomben aus NATO-Flugzeugen auf Belgrad. Ein bislang ungesühntes Kriegsverbrechen. Die notwendige Erinnerung daran, das Nicht-Vergessen auch der ersten deutschen Beteiligung an einem Angriffskrieg nach 1945, darf aber nicht zu einer Relativierung der gegenwärtigen russischen Aggression führen. Heute wurde in Moskau, offensichtlich aufs Feinste organisiert, vor der Botschaft Serbiens der Opfer dieser Bombardements gedacht. Die Perfidie dieses Vorgangs ist offensichtlich. Hier wird mit den Gefühlen der Menschen Schindluder getrieben.

Am 16. März erklärte die Primaballerina des „Bolschoi“, Olga Smirnova, dass sie vorzeitig ihre Moskauer Compagnie verlassen werde und nach Amsterdam gehe. Sie sei mit „jeder Faser ihrer Seele gegen den Krieg […] Ich hätte nie gedacht, dass ich mich für Russland schämen würde.“ Man sollte schon sehr genau hinsehen, gerade auf die zutiefst irritierenden Meldungen, um zu verstehen, was Smirnova meint.

Mit 16 Jahren wurde der junge Ukrainer Boris Romantschenko von den Nazis zur Zwangsarbeit in eine Grube des Ruhrgebietes verschleppt. Er versuchte 1943 zu fliehen, wurde aber aufgegriffen und in das Konzentrationslager Buchenwald gesteckt. Boris überlebte Peenemünde, die Hölle Dora und Bergen-Belsen. Er überlebte nicht den Beschuss seiner Heimatstadt Charkiw durch russische Truppen. Er starb am 18. März in seiner Wohnung, als die in Brand geschossen wurde. Boris Romantschenko war Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora. Am 12. April 2015 sprach er auf dem Appellplatz des KZ Buchenwald den Schwur der Buchenwald-Häftlinge. In russischer Sprache. Wladimir Putin hatte erklärt, die Ukraine entnazifizieren zu wollen.

Yulia Zdanovskaya vertrat mit 16 Jahren die Ukraine 2017 auf der Europäischen Mädchen-Mathematik-Olympiade. Die begabte junge Mathematikerin, ein sehr lebensfrohes Mädchen, gewann eine Silbermedaille. Am 8. März 2022 starb sie durch russischen Beschuss ebenfalls in Charkiw. Am Internationalen Frauentag. Charkiw ist die größte russischsprachige Stadt der Ukraine. Noch in der Mitte des vergangenen Jahrzehnts ermittelten Soziologen, dass 85 Prozent der Stadtbevölkerung ausschließlich Russisch sprächen. Ausschließlich Ukrainisch sprachen zum selben Zeitpunkt knapp 4 Prozent der Charkiwer. Wladimir Putin hatte erklärt, die Russen in der Ukraine vor einem „Genozid“ schützen zu wollen.

Mittlerweile schloss die ukrainische Filmakademie Sergei Loznitsa, den bekanntesten ukrainischen Filmemacher, wegen „Kosmopolitismus“ aus: „Der Regisseur Sergei Loznitsa hat wiederholt erklärt, dass er sich für einen Weltbürger hält. Aber jetzt, wenn die Ukraine mit aller Stärke ihre Unabhängigkeit verteidigen wird, sollte die Schlüsselrhetorik eines jeden Ukrainers seine nationale Identität sein. Und da kann es keine Kompromisse oder Zwischentöne geben.“ So jedenfalls die vom Filmfestival Odessa mitgeteilte Begründung. Loznitsas Vergehen: Er hatte zwar zum Boykott russischer Filme aufgerufen – aber mit Ausnahme der Filmemacher, die sich gegen Putin stellen.

Es gibt keine einfachen Wahrheiten. Dieser Erkenntnis werden wir uns auch weiter stellen. Wir wissen, dass das Widerspruch provozieren kann und muss. Nicht jede Autorenmeinung wird von jeder und jedem geteilt werden. Wer um eine bessere Welt ringt, muss das aushalten können. Dieser Krieg gefährdet auch unsere Diskursfähigkeit.

Wolfgang Brauer