25. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2022

Proust auf Reisen

von Mathias Iven

Denkt man an den Bädertourismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, dann fallen einem vielleicht Namen wie Karlsbad oder Bath, Ostende oder Norderney, Heiligendamm oder Travemünde ein. Und was ist mit Evian? Schon 1789 entdeckte man die heilende Wirkung des Wassers der dortigen Sainte Catherine-Quelle. Dreißig Jahre später begann deren kommerzielle Vermarktung. Als das Mineralwasser schließlich 1878 auf der Pariser Weltausstellung prämiert wurde, war der kleine Ort am Ufer des Genfer Sees schlagartig in aller Munde und wurde zum Anziehungspunkt der Hautevolee. Auch Marcel Proust zog es dort hin.

Wie kam es, dass Proust sich gerade nach Evian aufmachte? Dieser Frage ist der Literaturkritiker und Übersetzer Jürgen Ritte, Mitbegründer und Vizepräsident der Marcel Proust Gesellschaft, nachgegangen. Was er bei seinen Recherchen zutage gefördert hat, kann man in einem kleinen und feinen, noch dazu reich bebilderten Bändchen der Insel-Bücherei nachlesen, das gleich am Anfang mit einem Vorurteil aufräumt. Denn anders als man denkt, wenn man nur in dessen Bücher schaut und einen „im Korkzimmer eingeschlossenen Kranken“ vor sich sieht, hat Proust in seinem kurzen Leben durchaus „zahlreiche Orte inner- und außerhalb Frankreichs bereist“.

Was die wiederholten Besuche in Evian betrifft, das muss Ritte eingestehen, so lässt sich nicht mehr ausmachen, „ob es väterlicher Rat war, der sich von den savoyardischen Thermalquellen Linderung der nervösen Leiden des Sohnes versprach“ oder ob der erste, offenbar auf die Anregung von Louis de la Salle zurückgehende Kurzaufenthalt im August 1893 ausschlaggebend war. Gemeinsam mit ihm hatte sich Proust zur Erholung für einige Wochen in St. Moritz aufgehalten und auf dem Rückweg von dort ein paar Tage in Evian Halt gemacht. Übernachtet wurde im 1860 errichteten Grand Hôtel des Bains. Ritte schreibt zu dieser Entscheidung: „Noch wahrscheinlicher aber ist, dass sie beide schon gut genug in die gehobene Gesellschaft eingeführt waren, die rund um den Genfer See annähernd dieselbe war wie in Paris.“ Man war also unter sich und traf dort vielleicht den einen oder anderen Bekannten.

Erst im Herbst 1899 kam Proust abermals nach Evian. Erneut logierte er im Grand Hôtel des Bains, das im Winter 1897/98 nach Entwürfen des Architekten Ernest Brunnarius zu einem Palast mit 230 Zimmern vergrößert worden war und nunmehr unter dem Namen Hôtel Splendide firmierte. In nicht weniger als achtzehn Briefen berichtete er seiner Mutter von den Alltäglichkeiten, die sich in den sechs Wochen seines Aufenthaltes ereigneten. Dazu zählen auch die Besuche in den Schlössern und Landsitzen, die sich die Vertreter des Adels rund um den See hatten errichten lassen und wo sich das eigentliche gesellschaftliche Leben abspielte. Ritte schenkt gerade diesem kulturhistorisch äußerst interessanten Aspekt besonderes Augenmerk. Im umfangreichsten Abschnitt des Buches, überschrieben mit „Von einem Schloss zum andern“, lernt man beispielsweise die Prince Grégoire Bassaraba de Brancovan gehörende Villa Bassaraba in Amphion kennen, die in den Sommermonaten „der intellektuelle und gesellschaftliche Mittelpunkt am französischen Ufer des Genfer Sees“ war. Man erfährt einiges über das Château de Coudrée, das auf der Schweizer Seeseite gelegene Schloss Coppet, ehemals Wohnsitz von Germaine de Staël, oder auch über Schloss Prégny bei Genf, das den Rothschilds gehörte.

Lange Zeit war nicht bekannt, dass Proust auch in den Jahren 1900 und 1901 – möglicherweise zu zwei Kurzaufenthalten – an den See zurückkehrte. Hingegen wusste man von seinem Besuch im September 1903 und der mehrtägigen, gemeinsam mit einem befreundeten Paar unternommenen Exkursion nach Chamonix. Von dort ging es mit Eseln hoch nach Montenvers im Montblanc-Massiv, wo sie den größten Gletscher Frankreichs bestaunten: das „Mer de Glace“. Ein letztes Mal fuhr Proust Anfang September 1905 gemeinsam mit seiner Mutter nach Evian. Sie hatte seit Längerem mit einem Nierenleiden zu kämpfen und erhoffte sich von den Thermalquellen eine Linderung ihrer Schmerzen – doch die Krankheit war bereits zu weit fortgeschritten. Man brachte sie umgehend zurück nach Paris, wo sie Ende des Monats verstarb.

Evian, die Landschaft am Genfer See und das dort Erlebte sollte Proust noch lange vor Augen stehen. Jahre später wird er sich bei der Arbeit an seinem Roman daran erinnern. Wer all dem nachgehen und Prousts Spuren in und um Evian folgen möchte, sollte also unbedingt dieses schmale Büchlein in der Tasche haben.

Jürgen Ritte: Marcel Proust am Genfer See, Insel Verlag (Insel-Bücherei 1511), Berlin 2022, 139 Seiten, 14,00 Euro.