25. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2022

Diskursabstinenz

von Klaus-Dieter Felsmann

An jedem zweiten Donnerstag treffe ich meinen Freund Matti im Dorfgasthof des Nachbarortes. Ja, solcherlei Versammlungsstätten gibt es noch. Wir versuchen dann unsere Fragen hinsichtlich der Alltagserlebnisse und der Weltlage zu ordnen und manchmal kann der eine dem anderen etwas auf die Sprünge helfen. Nach geraumer Zeit löst sich die angestrebte Zweisamkeit allerdings innerhalb der Kneipenstube auf. Nicht nur an unserem Tisch ist das eine oder andere Bier geflossen. So lockern sich die Zungen und damit das Bedürfnis, die eigenen Weltsichten wenigstens an diesem Abend öffentlich zu teilen. Um uns herum sitzen Handwerker, Bauern der unterschiedlichsten Anbaukonzepte, einzelne Stadtflüchtlinge wie wir und Rentner, die Ausgleich von der Tageseinsamkeit suchen. Anfangs drängt sich natürlich die Frage auf, womit der andere so seine Brötchen verdient. Wer Dächer deckt, Bienen züchtet oder Kinder unterrichtet ist mit der entsprechenden Antwort schnell fertig. Auch für Matti war das mit dem Vorstellen einfach. Er ist Informatiker. Das flößt Respekt ein und erweckt die Hoffnung auf praktische Hilfe, wenn die alte Grafikkarte irgendwann nicht mit der aktuellen Spieleversion klarkommen sollte. Bei mir ist das komplizierter. Tagungen organisieren, Programmreihen kuratieren, diverse Texte verfassen, auf dem Dorf kann man mit all dem nicht viel anfangen. Man wartete auf etwas Anschauliches. Ich suchte eine Brücke und so habe ich mich als jemand dargeboten, der beispielsweise mehrfach im Jahr nach Wiesbaden zur FSK fährt, um dort Filme zu sichten und entsprechende Altersfreigaben zu erteilen. Das vermittelte den Zechgenossen zwar kein Gefühl für irgendeinen erkennbaren unmittelbaren Nutzwert. Doch es war ein Stichwort, um das Gespräch in eine Richtung zu lenken, bei der jeder meint, mitreden zu können. Eifrig waren Beispiele parat, wo man die Alterseinstufungen entweder als zu streng oder als viel zu freizügig wahrgenommen hatte. Stolz wurden abenteuerlich ausgeschmückte Jugenderlebnisse zum Besten gegeben, wo die Jugendschützer mit ihren Vorgaben genüsslich ausgetrickst wurden. Schließlich verblieb aber das Resümee, was das Ganze überhaupt soll, wo man doch im Netz mehr oder weniger nach Herzenslust jegliches fiktionale Medienangebot leicht finden könne. Eigentlich hätte ich wissen müssen, was ich mit meinem beruflichen Bekenntnis heraufbeschwöre. Da half nur eine Runde Schnaps, um irgendwie aus dem Schlamassel wieder herauszukommen. Das Thema war erst einmal erledigt und dennoch kam immer mal wieder jemand, der nebenher Ideen vortrug, wie man alles machen müsste.

Mein Fehler war, dass ich die Filmprüfungen der Einfachheit halber auf die Altersbescheide reduziert habe. Schon nach der Übersetzung des Kürzels „FSK“ als Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft wurde aus der Diskussion ein anderer Schuh. Sich selbst zu kontrollieren bedeutet immerhin eine Abkehr von irgendwelcher staatlichen Zensur. Wie kann das aber funktionieren? Das war nun die Frage. Tatsächlich wurde die FSK in den westlichen Besatzungszonen 1949 in Abgrenzung zur vormaligen Zensur in Nazi-Deutschland als auch von jener der alliierten Militärverwaltung gegründet. Auf der einen Seite sollte sich die Filmwirtschaft frei entfalten können, auf der anderen Seite wollte man faschistische und militaristische Ideen vom Publikum fernhalten. Später ging es dann vorwiegend um den Schutz der Heranwachsenden vor entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalten. Für die Systemangelegenheiten gab es allerdings noch einen interministeriellen Ausschuss, der der FSK vorgeschaltet war und der Filme aus den östlichen Staaten auf Verträglichkeit für das Publikum überprüfte. In Folge dieser Praxis kam Wolfgang Staudtes „Der Untertan“ als DEFA-Film beispielsweise erst sechs Jahre nach seiner Premiere in die bundesdeutschen Kinos. Es soll ja nichts verklärt werden.

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Arbeit der FSK wurden in den folgenden Jahren mehrfach modifiziert. Doch ein Grundprinzip war von Anfang an gegeben. Die Freigabeentscheidungen treffen Gremien von durchschnittlich fünf Personen. Versammelt sind Vertreter des Staates, der Kirchen, der Jugendverbände und eben auch der Filmbranche. Als Grundprinzip gilt, das nach jeder Filmsichtung im Disput zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen zu vermitteln ist. Idealerweise getragen von einem fragenden, kritischen Vertrauen kommt es am Ende eines so insistierten gedanklichen Prozesses zu einer mehrheitlichen Entscheidung. Für mich waren solcherlei Diskursrunden immer ausgesprochen anregend. Da sitzen auf ehrenamtlicher Basis Menschen zusammen, die ansonsten im Leben nicht viel miteinander zu tun haben, und tauschen sich über Medienangebote aus. Das heißt immer auch, es findet eine Auseinandersetzung über Weltsichten statt. Erzielt werden Kompromisse, die möglichst viele Argumente berücksichtigen. Jeder Teilnehmer fährt zum Abschluss einer Prüfwoche nach Hause, wo sich die aufgenommen Impulse letztendlich bewusst oder unbewusst im alltäglichen Leben niederschlagen. Vielleicht liegt darin überhaupt der eigentliche Wert solcherlei Verfahren, bei denen man sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit einer Sachfrage auseinanderzusetzt.

Für die Leute in meiner Gaststätte erschien die FSK so gesehen plötzlich hoch interessant. Könnte die Brüsseler Agrarbehörde nicht auch ein ähnliches Gremium gebrauchen, bevor dort neue Richtlinien für die Landwirtschaft beschlossen werden. Wären Bildungsbehörden nicht gut beraten, bevor sie wieder einmal die Schullandschaft umstrukturieren, Praktiker über die Vorlagen diskutieren zu lassen? Könnten Regionalpläne nicht erst dann beschlossen werden, wenn man sich vor Ort eine Meinung gebildet hat? Der mit den aus dem Bauch heraus gestellten Fragen verbundene Konjunktiv zeigt, dass es mit realen Diskurserfahrungen offenbar nicht weit her ist. Ich habe es in dieser Runde zunächst für mich behalten. Doch auch die FSK ist gerade dabei, ihre größte Wertstellung aufzugeben. Eine veränderte Medienlandschaft, Effizienzbestreben und überhaupt Fortschrittsglaube, der irgendwo im Digitalen gesehen wird, führen zu einer zunehmenden Umstellung der Prüfpraxis auf die Grundlage von künstlicher Intelligenz. Vorprogrammierte Tools lösen die Gremien immer häufiger ab. Eine amtlich bestellte Person überprüft danach das automatisierte Verfahren und bestätigt final die Entscheidung. Was ist aber, wenn diese Person etwa Michael Bittner heißt, der jüngst im nd Daniela Kriens interessanten Roman „Der Brand“ unter der Überschrift „Kulturkonservatismus der plumpen Art“ verrissen hat? Für Bittner ist es schon Teufelszeug, dass im Buch ein Literaturprofessor unter einem Shitstorm leidet, weil er die gängigen Gendermuster nicht bedient hat. Ganz im Stile etlicher unerbaulicher Ergüsse aus den Tagen, als seine Zeitung noch als „Zentralorgan“ firmierte, geht der Rezensent nicht auf die von Krien angesprochenen widersprüchlichen Konflikte ein, sondern er verdammt allein den Umstand, dass diese überhaupt angesprochen wurden. Es wäre auch nicht besser, wenn die nach „KI“-Vorprüfung entscheidungsberechtigte Person Elena Philipp hieße. Sie hat im Freitag über die „Queen Lear“-Inszenierung am Berliner Maxim Gorki Theater geschrieben. Eine einleuchtende Erklärung dafür, welcher Gewinn darin besteht, wenn Shakespeares „König Lear“ derart auf den Kopf gestellt wird, liefert sie nicht. Dafür schließt sie mit geradezu kämpferischer Inbrunst: „Die Deutungshoheit liegt bei einer neuen Generation. Deren Konfliktlinien hier offenliegen. Die Queen hat abgedankt.“ Na schönen Dank auch. Da klingt nichts mehr nach Vermittlung von unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen.

Naja, es müssen ja nicht solche Menschen auf dem Entscheidungsstuhl sitzen. Dennoch machen sie in ihrer Eindimensionalität deutlich, wie wichtig aushandelnde Gremien sind. Diskursabstinenz verschleiert zwar Widersprüche, sie lässt sie aber nicht verschwinden. Und allein den Stammtischen muss man die Suche nach einem Konsens zwischen verschiedenen Wertvorstellungen ja nicht unbedingt überlassen.