Die Wassergasse in Berlins Mitte, in der Nähe des Märkischen Museums und der Spreearme, kennen nicht viele. Sie ist eine der kürzesten Straßen der Hauptstadt. Dass sich der spektakulärste Postraub der DDR-Kriminalgeschichte am 12. Mai 1977 gerade in der Wassergasse ereignete, hat mit dem damaligen Postamt 14 zu tun. Das Gebäude, in dem sich die kriminellen Geschehnisse entwickelten, ist ein Doppelhaus mit zwei Eingängen: Wassergasse 1 und Köpenicker Straße 94.
Es war ein schöner früher Maimorgen, als Hildegard S., 66 Jahre alt, Reinigungskraft im Postamt 14, an diesem 12. Mai 1977 gegen 5.45 Uhr auf dem gegenüberliegenden VP-Revier die Schlüssel in Empfang nahm. Sie schloss die Hauseingangstür Wassergasse 1 auf; wie an jedem Tag lagen zwei Zeitungspakete vor der Tür zum Postamt, dem Diensteingang zur Post. Sie nahm die Pakete auf und betrat ihre Arbeitsstelle.
Kaum hatte sie die Tür aufgeschlossen und den Raum betreten, da war ihr so, als wenn jemand hinter ihr sei. Sie drehte sich um, bekam einen Schreck, denn sie sah einen Mann, den sie hier noch nie gesehen hatte. Er umfasste sie mit beiden Händen an der Halsgegend, drängte sie in einen dunklen Postraum, dessen Tür offen stand. Er hatte eine Pistole in der Hand (eine Luftdruckpistole, wie sich später herausstellte) und forderte Hildegard S. auf, ihm sofort den Tresorschlüssel auszuhändigen.
Nun gab es manchmal in der DDR wundersame Dinge, aber dass eine Reinigungskraft den Tresorschlüssel eines Postamtes oder einer Bank in Besitz hatte, das gab es wirklich nicht.
„Ich habe keinen Schlüssel“, stammelte Hildegard S. „Der Leiter des Postamtes, der hat einen. Der muss bald kommen.“
„Nun gut“, schnauzte sie der Unbekannte an, „ab jetzt sagen Sie keinen Ton mehr, sonst schieße ich. Klar!“
„Das geht doch nicht, ich muss hier arbeiten, Sie!“
Der unbekannte Mann packte sie, fesselte sie an Händen und Füßen mit einem mitgebrachten Draht und zog ihr unsanft eine Kapuze über den Kopf. Der Mann maskierte sich ebenfalls mit einer Kapuze, begab sich in den Schalterraum und zog die Fensterläden hoch, um keinen Verdacht zu erregen. Er erkundete noch die Alarmanlage, konnte aber feststellen, dass sie außer Betrieb war. In den Briefabfertigungsraum legte er am Schalter 1 ein Schriftstück ab. Darin äußerte der Posträuber in stilisierten Druckschrift-Großbuchstaben („Streichholzschrift“) und mit bewusst gemachten Fehlern: „Ich bin felsenfest davon überzeugt, das ich keinen Fehler gemacht habe und mich gegen jede Möglichkeit der Entdeckung genügend abgesichert habe.“ Er wartete auf den Postamtsdirektor, der schließlich den Tresor öffnete und sämtliches Geld herausgab. Danach verschwand er über den Keller durch die Haustür in der Köpenicker Straße 94. Er hatte vorher alles ausgekundschaftet.
Bei der zuständigen Kriminalpolizei in Berlin-Mitte wurde sofort eine Anzeige wegen Raubes im schweren Fall erstattet, die noch am selben Tage die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Unbekannt verfügte. Die Schadenssumme betrug 69.820,72 Mark.
Die Kriminalisten machten erstaunliche Entdeckungen und fotografierten alles fachlich perfekt und lehrbuchreif. Sie fanden zahlreiche Gegenstände, die der Täter zurückgelassen hatte: eine Perücke, selbstgenähte Beutel, eine Maske sowie eine Plastikbüchse mit Deckel und Pfefferresten, wohl um eine Verfolgung durch den Fährtenhund zu vereiteln. Ein Fahndungsblatt für die Öffentlichkeit zeigte einige Funde.
Auf der Rückseite des Fahndungsblattes war vermerkt. „Am Tatort wurden mehrere ca. 0,75 m bis 1 m lange, verschiedenfarbig isolierte, 1,8 mm starke Aluminiumkabeladern sichergestellt. Zwei dieser Kabelstücke waren mit einem Seemannsknoten (Webeleinsteg) verbunden.“
Alle Spuren führten ins Nichts. Durch die „Streichholzschrift“ war der Brief an die Kriminalpolizei nicht auswertbar, auch der Ermittlungserfolg versprechende Seemannsknoten, den in der DDR wohl nur wenige beherrschten (GST, Volksmarine), erbrachte keinen einzigen Verdachtsfall. Und der Fährtenhund gab schnell auf, irritiert und verwirrt durch den verstreuten Pfeffer.
Hildegard S. hatte den Täter ganz kurz ohne Maske und in großer Erregung gesehen, sodass das erarbeitete Phantombild gar nicht zum Täter führen konnte. Der Invalidenrentner und ehemalige Bergmann Gottfried B. war es schließlich, dem die Aufklärung des Falles zu verdanken war.
Stephan H. hatte er 1975 in der Untersuchungshaftanstalt Gera kennengelernt, wo beide für längere Zeit in einem Verwahrraum untergebracht waren. Gegen B. wurde wegen Scheckbetrügereien ermittelt, gegen H. wegen „Diebstahls sozialistischen Eigentums“, wie es in der DDR hieß. H. hatte sich mit abenteuerlichen, aber sehr gut funktionierenden Konstruktionen auf raffinierte Art bei den Minol-Tankstellen selbst bedient, heißt, er stahl Benzin aus den Großtanks. Er konnte den Kraftstoff mit einer Pumpe direkt in seinen Pkw befördern, womit er lange Zeit unentdeckt blieb.
Eine gemeinsame Zelle hat schon immer zusammengeschmiedet, sodass beide nach ihren Haftentlassungen in Berlin-Ost 25 Postämter auswählten, in denen sich ein Postraub lohne. B. war aber an Krebs erkrankt und wollte sein Gewissen erleichtern. Er teilte den Kriminalisten mit, dass Stephan H. die Raubstraftat in Berlin begangen hatte und möglicherweise jetzt weitere Überfälle auf Postämter und Sparkassen unter Verwendung einer Schusswaffe auf seinem Plan stünden.
Jetzt überschlugen sich die strafprozessualen und kriminalistischen Maßnahmen; Stephan H., er hatte an der Technischen Universität Dresden studiert, wo er 1974 den akademischen Grad eines Diplom-Physikers erwarb, wurde am 27. März 1979 verhaftet. Das Stadtbezirksgericht Berlin-Pankow verurteilte ihn am 12. September 1979 zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren. Er wurde im Januar 1986 vorzeitig auf Bewährung aus der Haft entlassen.
Das in der Wassergasse geraubte Geld hatte Stephan H. ausgegeben. Und das Kabelstück, an dem sich der für die Ermittlungen so hoffnungsvolle Seemannsknoten (Webeleinsteg) befand, entdeckte er auf einer Deponie und nahm es für spätere Fesselungen mit. So einfach können Erklärungen sein.
Schlagwörter: DDR-Kriminalgeschichte, Frank-Rainer Schurich, Postraub