25. Jahrgang | Nummer 5 | 28. Februar 2022

Wer war eigentlich Nikolai Kostomarow?

von Detlef Jena

Nikolai Kostomarow kam im Mai 1817 als Sohn eines russischen Gutsbesitzers im mittelrussischen Gouvernement Woronesh zur Welt. Seine Mutter war zu diesem Zeitpunkt noch eine Leibeigene. Sie wurde erst im September 1817 von ihrem Gutsherrn und Besitzer geheiratet. Dadurch war Nikolai von Geburt an ein Leibeigener seines Vaters. Dieser juristisch schwierige Status wurde noch komplizierter, als der Vater am 14. Juli 1827 von Leibeigenen erschlagen wurde.

Der väterliche Grundbesitz musste mit all seinen „Seelen“ unter Berücksichtigung der Besitzansprüche aller Verwandten des Erschlagenen verkauft werden, ehe die Mutter überhaupt zu Geld kam und der eigene Sohn durch Freikauf die persönliche Freiheit erhielt. Der entwürdigende Handel prägte Nikolais ganzen Lebensinhalt. Zunächst galt der Junge als ein intellektuelles „Enfant-miraculeux“ – als ein Wunderkind. Er wählte mit dem hinreichenden Selbstbewusstsein eines freien Menschen ein Studium der Geschichte an der ukrainischen Universität von Charkiv. Für den Russen Kostomarow war das kein Problem. Er dilettierte zunächst reichlich chaotisch in allen möglichen Bereichen der Geschichtswissenschaft, ehe ihn 1835 sein Professor M. M. Lunin zu systematischer Arbeit anhalten konnte. Wie viele Universitätsabsolventen diente Kostomarow nach dem Studium im Heer. Er wurde in der Provinzstadt Ostrogoschsk im Gouvernement Woronesh, stationiert.

Er machte er aus der Not eine Tugend. Um der lähmenden Langeweile des Garnisonsalltags zu entfliehen, durchsuchte das russische „Enfant-miraculeux“ das lokale Gerichts-Archiv und stieß auf Dokumente, die ihn zu Kernproblemen der ukrainischen Konflikte des 17. Jahrhunderts führten. Er schöpfte aus den Akten eine Geschichte der „Sloboda-Kosakenregimenter“, jener legendären Kosakenheere, die nach der ukrainischen Teilung von 1654 in Peresjaslawl und dem Waffenstillstand von Andrusowo 1667 zu der vom Moskauer Zarenreich kontrollierten weitläufigen „linksufrigen“ Ukraine außerhalb des Saporoger Kosaken-Hetmanats (Saporoger Sič) gehörten, während die rechtsufrige Ukraine bei aller Autonomie des Hetmans der Saporoger unter der Oberhoheit der Rzeczpospolita Polens und Litauens verblieb.

Kostomarow quittierte voller Begeisterung über dieses spannende Kapitel der ukrainisch-polnisch-russischen Geschichte den Heeresdienst und ging nach Charkiv zurück. An der Universität rebellierte der 20-jährige junge Gelehrte gegen die offiziellen Lehrmeinungen zur Geschichte: Warum ist die Geschichte nur auf die Politik, gekrönte Häupter, staatliche Institutionen und Gesetze fixiert? Warum erscheinen der niedere Kosak, der Bauer oder der Bürger nicht in der historischen Literatur – fragte er lautstark und voller Energie, wie ein freier Kosak!

Seine Gedanken, die auch den ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko in seiner Poesie leiteten, verdichtete sich bei dem russischen Historiker Kostomarow zu einem Programm. Der einfache Mensch aus dem Volk, mit all seinen Sehnsüchten, Zweifeln und seinem Glauben muss mit in das Zentrum der historischen Wissenschaft rücken und darin einen geachteten Platz einnehmen! Kostomarow wurde zu einem frühen Wegbereiter für die oral history und erkor die russisch-ukrainische Geschichte zu seinem Lebensinhalt.

Der griechisch-orthodoxe Erzbischof von Charkiv stoppte jedoch den Höhenflug, indem er Kostomarows Dissertation „Über die Ursachen und die Art der Vereinigung im Westen Russlands“ als schlichtweg unverschämt erklärte. Das Buch wurde verbrannt. Doch Kostomarow gab nicht auf. 1843 war ein zweiter Anlauf „Über die historische Bedeutung der russischen Volkspoesie“ erfolgreicher. Und die zarische Obrigkeit bewies Toleranz – selbst unter der Herrschaft Nikolaus I., der im Westen als „Gendarm Europas“ zum Inbegriff russophober Angriffe erkoren wurde.

Kostomarow wurde 1846 an der Universität Kiew Professor für russische Geschichte. Um ihn sammelte sich in der „Cyril und Methodius-Bruderschaft“ ein Kreis ‚volkstümlicher‘ Gelehrter und Literaten, zu dem auch Taras Schewtschenko zählte. Es waren integre Persönlichkeiten, die von den vagen Idealen der slawischen Solidarität, Wechselseitigkeit und Wiedergeburt träumten. Ein Denunziant verriet die Diskutanten. Kostomarow saß als Staatsverbrecher ein Jahr in der Petersburger Festung ein. In der anschließenden Verbannung in Saratow begriff er zwar den Gegensatz zwischen Ideal und Wirklichkeit, arbeitete aber an der Geschichte des ukrainischen Kosaken-Aufstands unter der Führung Bohgdan Chmelnyzkyjs weiter.

Es zählt zu den Realitäten der innerrussischen Politik im 19. Jahrhundert, dass Kostomarow in den folgenden Jahren immer wieder mit der Staatsmacht in Konflikt geriet. Er wurde seiner Universitäts-Ämter beraubt – dann wiedereingesetzt, verbannt, rehabilitiert und dennoch in höchste akademische Würden berufen. Er wurde durch seine fachliche Kompetenz und durch die allgemeine Beliebtheit seiner volkstümlichen Art der Darstellung einer der bedeutendsten russischen Historiker seiner Zeit: weil er die schwierigen Probleme im Verhältnis Russlands zur Ukraine während einer langen Geschichte aufgriff, in der sich die Ukrainer immer wieder neuen Herren aus West und Ost, Nord und Süd, aus Polen, Österreich oder Preußen unterwerfen mussten.

Für ihn stand die Geschichte des einfachen Volkes im Mittelpunkt. Er hat als Russe Beachtliches für die ukrainische Nationalgeschichte geleistet. Im April 1885 ist er in St. Petersburg gestorben. An seinem Wohnhaus gibt es eine Gedenktafel. Im russischen Woronesh und im ukrainischen Charkiv sind Straßen nach ihm benannt worden. Und besonders hübsch: Man hat ihn auch in Kiew nicht vergessen. 1992 wurde in der Ukraine eine Gedenkbriefmarke Kostomarow gewidmet. Zu seinem 200-jährigem Geburtstag gab die Nationalbank der Ukraine am 20. April 2017 eine 2-Hrywnja-Gedenkmünze heraus.