25. Jahrgang | Nummer 5 | 28. Februar 2022

Todd Gitlins politisches Vermächtnis

von Mario Keßler

Keine zeitgenössische Autorin ist mir so unter die Haut gegangen wie Sie. Ich habe Ihre drei Romane und mehrere Ihrer Erzählungen verschlungen, bewegt und erstaunt über die Sehnsüchte, Ängste und Ambivalenzen Ihrer Figuren und über das Zusammenspiel zwischen ihnen; und nicht nur bewegt und erstaunt, sondern erfreut über die flinken Bewegungen in Ihren Dialogen; und nicht nur das, sondern beeindruckt von der Art und Weise, wie Sie die düstere Klassenlage und die wirtschaftlichen Aussichten, die auf und durch Ihre Figuren wirken, aufgreifen und das Pathos und die Pathologien aufzeigen, die viele Millionen junger Menschen heute als ihr Schicksal erleben.“

Diese Zeilen entstammen einem offenen Brief, den der amerikanische Soziologe Todd Gitlin an die irische Schriftstellerin Sally Rooney richtete und die der Forward, eine linke jüdische Wochenzeitung in New York, auf seiner Internet-Seite am 21. Oktober 2021 veröffentlichte. Anlass war die Weigerung der Autorin, ihren Roman „Beautiful World, Where are You“ ins Hebräische zu übersetzen und in Israel erscheinen zu lassen. Als Unterstützerin der BDS-Bewegung (Boycott-Divestment-Sanctions; des oft undifferenzierten wirtschaftlichen und kulturellen Boykotts gegen Israel und die Israelis) verstand sie dies als Teil des Kampfes für ein Ende der israelischen Gewalt gegen Palästinenser. Sally Rooney hatte aber niemals Einwände gegen die Publikation ihrer Bücher in Diktaturstaaten erhoben, die ihre Minderheiten weit grausamer unterdrückten.

Er sei strikter Gegner der israelischen Besetzung des Westjordanlandes und der gewaltsamen Unterdrückung der dort lebenden Palästinenser, so Gitlin an Rooney. Er erinnerte daran, dass er im Jahre 2016 Mitverfasser eines Aufrufs für einen gezielten Boykott von Waren und Dienstleistungen aus allen israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten war. Doch schade die BDS-Kampagne, und vor allem der akademische Boykott, in ihrer Konsequenz gerade auch israelischen Gegnern der Okkupation, die vor allem an Universitäten zahlreich sind. Es gebe zudem, so schloss Gitlin seinen Brief, der zum politischen Vermächtnis wurde, keinen Beweis dafür, dass die BDS-Bewegung „zu Ergebnissen geführt hat, die tatsächlich den Palästinensern zugutekommen.“ Ihr Werk, mahnte Todd Gitlin die irische Autorin eindringlich, sei „eine großartige Hommage an den Geist, der danach strebt, sich aus den Gefängnissen herauszudenken und einen Weg zu einer schöneren Welt zu bahnen.“ Warum sollten gerade progressiv gesinnte Israelis auf dieses Werk verzichten?

Der am 6. Januar 1943 in Manhattan in einer jüdischen Familie geborene Todd Gitlin war schon als Student an den Eliteuniversitäten von Harvard, Ann Arbor und Berkeley politisch aktiv. Landesweit bekannt wurde er 1963/64 als Vorsitzender der Students for a Democratic Society, der wichtigsten studentischen Organisation der entstehenden Neuen Linken. Auch danach blieb Gitlin politisch präsent: Am 19. März 1965 initiierte er einen Sitzstreik vor dem Hauptquartier der Chase Manhattan Bank in New York, um gegen die Unterstützung des Apartheid-Regimes in Südafrika durch das Finanzhaus zu protestieren. Er war Mitorganisator der ersten landesweiten Demonstration gegen den Vietnamkrieg am 17. April 1965 in Washington mit rund 25.000 Teilnehmern. Ebenso war er bei zahlreichen späteren Anlässen, so im Protest gegen den Golfkrieg 1991 und den Irakkrieg 2003, in vorderer Reihe zu finden.

Auch Gitlins wissenschaftliches Werk speiste sich aus politischen Erfahrungen. Seinen Erstling „Uptown Poor Whites in Chicago“ schrieb er 1970 zusammen mit seiner damaligen Frau, der Juristin Nancy Hollander. Schon Gitlins Dissertation in Berkeley, ab 1980 als Buch mehrmals unter dem Titel „The Whole World Is Watching: Mass Media in the Making and Unmaking of the New Left“ aufgelegt, zeigte, wie die Medien zunächst neue politische Entwicklungen ignorieren, sie dann aber erfolgreich vereinnahmen. Dieses Thema sollte ihn auch weiterhin beschäftigen.

Unter seinen fast zwanzig Büchern, darunter drei Romanen, ist „The Twilight of Common Dreams: Why America is Wracked by Culture Wars” (1995) hervorzuheben. Das Werk ist von der Frage angetrieben, warum die politische Linke in immer kleinere Gruppen zerfiel, während die politische Rechte durch zunehmende innere Geschlossenheit einen Aufstieg erlebte. Stand die Rechte in der Vergangenheit für wenige Privilegierte, vor allem reiche, weiße Männer, und die Linke für die universalen Werte als Fürsprecherin der besitzlosen Massen, verstehe es die Rechte heute, hinter einer Rhetorik des Gemeinwohls und eines mitfühlenden Konservatismus ihre Herrschaftsinteressen zu verschleiern. Die Linken seien hingegen immer mehr „besessen von ihrer rassischen, ethnischen, religiösen und sexuellen Identität“ – Mahnungen, die 2022 so eindrucksvoll klingen wie 1995.

Als Gitlins Hauptwerk aber darf „The Sixties: Years of Hope, Days of Rage“ gelten, das 1987 erschien. Das Buch ist zum Teil eine historisch-politische Analyse, zum Teil ein Sozialreport, immer wieder unterlegt mit Erinnerungen an Freunde und Weggefährten. Gitlin zeigt, wie eine demokratische Linke viele kulturelle Kämpfe gewann, Anerkennung und Rechte für Nicht-Weiße, für Frauen, für sexuelle Minderheiten durchsetzte, doch nicht imstande war, die ökonomischen Kämpfe zu gewinnen. Die wirtschaftliche und mediale Macht verblieb beim militärisch-industriellen Komplex und seinen ideologischen Bannerträgern. Doch umso mehr brauche die Linke moralische Klarheit, Optimismus und einen langen Atem; die Kämpfe sind weiterzuführen, auch wenn sogar Teilsiege noch weit entfernt sind. Fanatismus führe jedoch bis in den individuellen Terror und sei ein Weg in die Selbstzerstörung.

Seine außerordentlichen Leistungen erbrachten Todd Gitlin Rufe an weltweit führende Hochschuleinrichtungen: Nach Professuren in Berkeley und an der New York University war er seit 2002 Professor für Journalismus und Soziologie an der Columbia University in New York. Zahlreiche Gastprofessuren, darunter in Frankreich, sind ebenfalls Zeichen seiner großen internationalen Anerkennung. In Deutschland ist sein Werk jedoch noch zu entdecken.

Gitlins stete Warnung vor einem naiven Blick auf die Sowjetunion erwies sich als richtig. Doch von Fehlurteilen war auch er nicht frei: 1999 unterstützte er – im Sinne diesmal falsch verstandener Menschenrechte – den westlichen Überfall auf Jugoslawien, der reaktionäre Regime durch noch schlimmere ersetzte. Sein größter Fehler, und damit stand er nicht allein, war aber die Unterstützung des Afghanistan-Krieges 2001. Die Resultate dieses gescheiterten militärischen Abenteuers, der langsame Niedergang „des Westens“ und der mögliche Aufstieg einer autoritär verfassten Weltordnung sind heute voller Beklommenheit zu besichtigen.

Er blieb unermüdlich tätig. Zu nennen sind sein langjähriges umweltpolitisches Engagement, in dessen Folge die Harvard-Universität ihre Öl-Investitionen kündigte, oder sein Mitwirken bei Occupy Wallstreet (siehe auch sein Buch „Occupy Nation“, 2012). Er war Mitbegründer von „Writers for Democratic Action“; einer Initiative gegen die Wiederwahl von Donald Trump 2020. Zuletzt organisierte Gitlin mit dem Republikaner William Kristol einen Aufruf, um die republikanischen Angriffe auf das Wahlrecht zu stoppen. Er war und bleibt eine der wichtigsten Persönlichkeiten der amerikanischen Neuen Linken.

Am 5. Februar 2022 ist Todd Gitlin, der Kämpfer und Gelehrte, in Pittsfield, Massachusetts verstorben. Er wird fehlen.