Saul Ascher, ein in der außerordentlich bewegten Zeit am Anfang des 19. Jahrhunderts wirksamer Schriftsteller jüdischen Glaubens, arbeitete sich kritisch an der aufkommenden politischen Romantik ab. Diese sah er nicht unwesentlich durch Fichte inspiriert. Sein Werk „Die Germanomanie“ (1815), welches die antifranzösischen und antijüdischen, nationalistischen zeitgenössischen Ideen kritisierte, stand auf der Liste der auf dem Wartburgfest 1817 dem Feuer zu übereignenden Bücher. Es schien sich gegen die Einheits- und Freiheitsbestrebungen im Gefolge der Befreiungskriege zu richten.
In einem kürzlich im Neuen Deutschland erschienen Essay nimmt der Autor Jakob Ole Lenz den Grundtenor der von Saul Ascher formulierten Kritik des bei Fichte diagnostizierten Judenhasses auf. Danach gebührt diesem zu Recht „der Platz“ als „oberster Germanomane“. Diese Zuschreibung scheint mit einer anderen, in Berlin diskutierten Position zur Umbenennung von Straßen und Plätzen parallel zu gehen (siehe auch Das Blättchen, 2/2022).
Der im Essay vorgestellten Wertung der politischen Auffassungen Fichtes seien zunächst einige weitere zur Seite gestellt: Fichte als Verteidiger der Französischen Revolution (M. Buhr); ein „mutiger Verteidiger der Menschenrechte“ (H. Schuffenhauer); Begründer des planwirtschaftlich organisierten „Staatssozialismus“ (G. Schmoller, Marianne Weber, E. Bloch); Ideengeber radikal-demokratischer Auffassungen der Junghegelianer (A. Ruge, Moses Hess – einer der geistigen Väter des modernen Zionismus); auch Lassalle fühlte sich dessen aktivistischer „Tatphilosophie“ verpflichtet und nicht wenige Arbeitersportvereine mit jüdischen Mitgliedern sahen in ihm einen Namenspatron. Einigen – wie Saul Ascher, auf den sich dann auch Peter Hacks bezieht – gilt er als ein Vordenker der politischen Romantik; einer nicht unbedeutenden jüdischen Rezeption Fichtes steht die gegenüber, welche faschistisches Denken salonfähig werden ließ.
Was nun? Die Zuschreibungen und Inanspruchnahmen der Person Fichtes oder seines Werkes sind mehr als verwirrend. Umso mehr erstaunt dann ein solch striktes Urteil als eines „Erz-Germanomanen“. Hier kann es nicht darum gehen, die Urteile Saul Aschers im Einzelnen historisch-kritisch zu werten. Er beurteilte in seiner Zeit aus seinen Wahrnehmungen verfügbare Äußerungen Fichtes. Nur frage ich, inwieweit das der Blickwinkel sein kann, unter der ein Historiker 215 Jahre später die Aussagen Fichtes und die von Saul Ascher aufnimmt.
Fichtes politische Ansichten um 1800 sind eingelassen in die Zeit des politischen Umbruchs in Europa. Sie tragen diese Widersprüchlichkeit in sich. Werden sie aus dem zugrundeliegenden Kontext mit ihren zeitgebundenen wie auch überschreitenden Intentionen herausgelöst, so sind sie gleich einem Steinbruch in höchst unterschiedlicher Weise beanspruchbar – von der sozialistischen Arbeiterbewegung bis hinein in die nationalistischen und rassistischen Ideen des deutschen Faschismus. Wie andere komplexe Werke bietet es vielfältige Zugriffsmöglichkeiten. Erinnert sei nur an die nationalistische Vereinnahmung Goethes und Schillers oder der Romantiker im 19. und 20. Jahrhundert. Nur wird das dem Werk Fichtes gerecht? Ich bin mir beispielsweise nicht sicher, ob man vom Judenhass Fichtes sprechen kann. Eher würde ich herausheben, dass er eine spezifische Kritik am zeitgenössischen, insbesondere orthodoxen Judentum übt. Fichte verfolgte die Intention einer rationalen Universalisierung der Menschenrechte. Ihm ging es darum, jegliche Form der Absonderung in einem einzigen System gleicher bürgerlicher Rechte aufzuheben. Jede in sich abgegrenzte Daseinsweise galt ihm als vernunftwidrig, auch wenn diese selbst Ergebnis der Ausgrenzung durch die Gesellschaft war. In einer solchen Perspektive lassen sich die Aussagen Fichtes und ebenso sein Handeln durchaus in anderer Weise einordnen und Überschneidungen mit den sozialpolitischen Positionen Saul Aschers finden.
Wenn Ascher gegen die politische Romantik polemisierte und meinte, sich dazu besonders an Fichte abarbeiten zu müssen, so mag das in zeitgeschichtlicher Sicht nachvollziehbar erscheinen. Doch traf er damit keineswegs dessen von der politischen Romantik sehr verschiedene Gesellschaftskonzeption, wenngleich er Mitglied der von ihr dominierten Berliner Tischgesellschaft war, der auch Clausewitz und Savigny angehörten. Fichtes sozialpolitisches Denken unterscheidet sich mit seinen starken demokratischen und egalitären Intentionen grundlegend sowohl vom konservativ-feudalen Denken als auch dem der politischen Romantik mit der ihnen eigenen Betonung der Funktion des Adels, des spätabsolutistischen Staates mit seiner Bürokratie und der Funktion der überkommenen Kirchen. Dagegen wurde die Welt durch Fichte gerade nicht als unveränderlich interpretiert, der gegenüber gerecht zu sein nur dem Frommen möglich sei. Stattdessen wird die angestrebte gerechte Welt ganz im Sinne der bürgerlichen Emanzipationsbewegung als eine diesseitige Alternative vorgestellt. Und es war die philosophische Begründung der Gleichheit und der darauf gegründeten Freiheit aller Individuen, durch die man die neue deutsche Philosophie als theoretisches Pendant der Großen Revolution der Franzosen bewertete.
Im Zentrum der Auseinandersetzung Aschers mit Fichte stehen dessen „Reden an die deutsche Nation“ mit den darin entwickelten nationalpatriotischen Anrufungen der Volksmassen gegen die napoleonische Fremdherrschaft. Ascher konstatiert bei Fichte einen Rückfall in das Christentum, das dieser mit der nationalen Identitätsbildung der Deutschen verband. Abgesehen davon, dass Ascher den sich dabei darstellenden Zug einer vernunftbasierten Reformulierung der religiösen Bewusstseinsform in bürgerlicher Absicht und durchaus in Frontstellung gegen die etablierten Kirchen offensichtlich nicht wahrnahm, ergibt sich in den religionsphilosophischen Einlassungen Fichtes nicht nur eine kritische Haltung gegen das Alte Testament, auf das sich die mosaische Tradition bezieht, sondern ebenso gegen weite Teile des Neuen Testaments. Fichte suchte vor allem aber über die Entfaltung einer Erziehungsidee eine historische Perspektive zu eröffnen, welche die ständischen und konfessionellen Begrenzungen überschritt und den Anspruch eigener sozialer, ökonomischer und politischer Interessen des aufkommenden deutschen Städte- beziehungsweise Bildungsbürgertums als eines nationalen Subjekts entwickelte.
Den von ihm formulierten Patriotismus grenzte Fichte dabei vehement vom „bornierten Landespatriotismus“ deutscher Kleinstaaten ab. Fichte rief in den „Deutschen“ ein Subjekt an, das es so nicht gab, das er vielmehr herbeisehnte, hoffte er doch, dass in der antinapoleonischen, patriotischen Bewegung die Vernunft, die allen Menschen prinzipiell eigen ist, endlich zur geschichtlichen Wirklichkeit gelangt. Doch der Mensch kann nur eingreifen in seiner nächsten Umgebung. Deshalb – so Fichte in „Patriotismus und sein Gegenteil“, einer Ausarbeitung, die er parallel zu den „Reden an die deutsche Nation“ verfasste – „wird jeglicher Kosmopolit ganz notwendig, vermittels seiner Beschränkung durch die Nation, Patriot; und jeder, der in seiner Nation der kräftigste und regsamste Patriot wäre, ist eben darum der regsamste Weltbürger, indem der letzte Zweck aller Nationenbildung doch immer der ist, daß die Bildung sich verbreite über das Geschlecht“, sprich: über die gesamte Menschheit. Dass Fichte in der Charakterisierung der Deutschen (die es zu diesem Zeitpunkt nicht in dem uns heute gegenwärtigen Verständnis gab, sondern eine kulturelle Zuschreibung für alle Menschen deutscher Sprache war, also auch Schweizer, Österreicher oder Friesen) illusionäre Zuschreibungen vornahm, kann man erklären, macht sie dadurch aber im Einzelfall nicht besser. Nur sollte man eben die angedeutete Vision in Bezug auf die Menschheit im Auge haben. Das gilt nach meiner Auffassung um so mehr, wenn man weitere politische Schriften zur Einordnung hinzuzieht, etwa sein 1813 verfasstes politisches Testament (welches Ascher nicht kennen konnte), das man durchaus in seiner kritischen Radikalität Büchners „Der Hessische Landbote“ zur Seite stellen kann.
Übrigens: Illusionäre Zuschreibungen auf der Suche nach einem geschichtsmächtigen Subjekt sind so selten nicht. Erinnert sei nur an die Bestimmung der historischen Mission des Proletariats durch Marx und Engels im Manifest.
Fichte – „Erz-Germanomane“ oder widersprüchlicher Geist, Kosmopolit in bewegter Zeit?
Dr. Jürgen Stahl studierte Philosophie in Jena, wo er 1989 auch habilitierte. Er arbeitet in Leipzig in der Privatwirtschaft, ist Mitglied der Internationalen Fichte-Gesellschaft und arbeitet in der Werkstatt des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus mit.
Schlagwörter: Johann Gottlieb Fichte, Jürgen Stahl, Kosmopolitismus, Patriotismus, politische Romantik, Saul Ascher