25. Jahrgang | Nummer 2 | 17. Januar 2022

Vom Summstein

von Renate Hoffmann

Wilhelm von Humboldt meinte: „Wir können nicht denken, ohne zu fühlen.“ Woraufhin Albert Einstein ergänzte: „Wir können überhaupt nicht denken, ohne unsere fünf Sinne zu gebrauchen.“

Welchen der fünf sollte ich einsetzen, als ich in Wernigerode, der „Bunten Stadt am Harz“, vor einem schlichten zweiteiligen Steinblock stand, der in Kopfhöhe eine geräumige runde Höhlung besaß. Eine Zufallsentdeckung am Oberpfarrkirchhof, gegenüber der Sylvestrikirche. Gewiss, der optische Sinn ward gefordert, ohne jedoch den gezielten Denkprozess in Gang gesetzt zu haben. Stein mit Loch. Skulptur von tieferer Bedeutung? Welträtsel zur persönlichen Auslegung? Oder mit esoterischem Anflug? – Ein junger Mann erkennt meine Ahnungslosigkeit und weist auf eine nebenstehende Tafel. Die Aufklärung:

„Das Summloch. Tief einatmen, summend lang ausatmen.“ Man soll den Kopf in die Höhlung stecken, und dann den Summvorgang folgen lassen. „Am besten summt man mit locker geschlossenem Mund und Lippen in verschieden hohen Tonlagen, bis man seinen eigenen Ton gefunden hat.“ Man hat ihn gefunden, wenn sich die Resonanz verstärkt, die eigene Stimme in Vibration gerät, und diese vom Kopf bis zu den Füßen spürbar wird. – „Jeder Mensch hat eine nur ihm allein eigene Organ-Vibration, den sogenannten tremor. Das Summen erregt den tremor enorm.“ Umgehend führe ich das Experiment durch. Den Kopf in die Öffnung schieben und lossummen.

1. Zaghafter Beginn in höherer Stimmlage. Dumpfes leises Gezirpe. Keine Resonanz, kein Kribbeln. 2. Langsames Abgleiten des Summtons in tiefere Lagen. Nichts rührt sich. Erste Zweifel an der Glaubwürdigkeit der These. 3. Plötzlich, mit ohrenbetäubender Lautstärke, gleich einem Donnergrollen, stürzt die eigene Stimme auf mich. 4. Versuchsabbruch. Zurückziehen des Kopfes aus dem Summloch bei leichtem Zittern; ob durch den Schreck oder den „enorm erregten tremor“ verursacht, lässt sich nicht überzeugend beweisen.

Summsteine sollen die Erfahrungswelt der Sinne aufbessern, die etwas stumpf geworden sind. Wer vernimmt denn noch das Rauschen des Windes, das Knirschen des Kiesweges unterm Schritt, das Brechen eines Astes, den Flügelschlag ziehender Gänse am Himmel, einen fallenden Tropfen, Vogelgezwitscher und den Warnruf der Amsel? –

Die meisten Gesteinsarten eignen sich für die Fertigung von Summsteinen, unter anderem Granit, Basalt, Sand- und Kalkstein; auch die Herstellung aus Beton ist möglich. – Es soll diese physikalisch-physiologischen Wunderobjekte bereits in frühgeschichtlicher Zeit gegeben haben. Dermaleinst wohl mehr zu meditativen Zwecken angewendet als zur Heilung, was auch vermutet wird. – Im Höhlensystem auf der Insel Malta entdeckte man ein Summloch, das zu neuzeitlichen Nachahmungen führte.

Die Sinne wieder für die Wahrnehmung in und um uns werden zu lassen, ist ein Gebot der Stunde, dachte Hugo Kükelhaus (1900–1984), Pädagoge, Tischler, Künstler, und entwarf gedanklich und experimentell ein „Erfahrungsfeld für die Sinne“, worin auch der Summstein als Anreger eine Rolle spielt. Wenn die Umsetzung dieser Idee gelingt, so wird sich die Tür zu einer Welt öffnen, an der wir bislang achtlos vorüber gingen.

Summsteine sind vornehmlich in Gärten für die Sinne zu finden, auf Klangpfaden, Skulpturenwegen, Spielplätzen und in Parkanlagen. – Es gibt sie allenthalben, die Zeugen zur Sensibilisierung des akustischen Sinnes. Einige Standorte seien genannt: in Görlitz auf einem Klangpfad in der Kastanienallee; in Zinnowitz an der Strandpromenade; in Calw am oberen Marktplatz; nahe Schloss Freudenberg bei Wiesbaden; in Berlin auf dem Spielpatz Gubener Straße, im Stadtteil Friedrichshain, und auf dem großen Kletterspielplatz an der Bartning-Allee im Hansaviertel.

Nunmehr aufmerksam geworden, vernehme ich das Gurren der Tauben, das leise Murmeln eines Baches und das Säuseln der Zitterpappel beim Spaziergang, und die wispernden Stare auf ihrem Schlafbaum vor meinem Fenster. – Wenn die Entwicklung so fortschreitet, werde ich am Ende noch das Gras wachsen hören.