25. Jahrgang | Nummer 2 | 17. Januar 2022

Die Großepidemiologie der Tuberkulose

von Rudolf Emmerlich

Der folgende Beitrag wurde uns von unserem Autor Eberhard Görner zur Verfügung gestellt. Angesichts der augenblicklichen Pandemie und der damit einhergehenden Gesellschaftskrise scheint ein Blick auf scheinbar Zurückliegendes oft mehr als hilfreich. Der Verfasser des Textes, OMR Dr. med. Rudolf Emmerlich (1913–1989), erarbeitete ihn im Mai 1954 als Vortragsmanuskript für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der von ihm begründeten TBC-Heilstätte im Schloss Pulsnitz/Sachsen. Er leitete die Anfang der 1970er Jahre in eine Klinik für Lungenkrankheiten umgewandelte Einrichtung bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1983.

Wir danken Frau Dr. med. Heide Görner für die Veröffentlichungsgenehmigung.

(d. Red.)

Jede Kultur, wie sie kommt und geht, hat ihre Tuberkuloseepidemie. Im Gegensatz zu den vielen anderen ansteckenden Krankheiten, die wiederholt kommen und gehen, scheint es bei der Tuberkulose so zu sein, dass sie nur einmal kommt. Ob und wie sie wieder geht, ist eine andere Frage, es ist die Frage der zivilisatorischen Gestaltung der jeweiligen Kultur.

Die Tuberkulose kommt in allen Kulturen dann, wenn sich Städte bilden, wenn soziologische Wohngemeinschaften entstehen und wenn Verkehr und Wirtschaft zu einer engeren und vielgestaltigen Berührung der Bevölkerung untereinander führen. Es gibt keine Kulturen mit großen Städten, aus denen wir nicht Nachricht über die Tuberkulose haben.

Freilich, den Kampf gegen die Tuberkulose hat keine der alten Kulturen aufgenommen, unsere war die erste. Im Atharva-Veda, also etwa 800 Jahre vor Chr., gibt es ein Beschwörungsgebet zur Bekämpfung der Tuberkulose, das sehr charakteristisch endet: „Weiche von mir, schone mich, gehe zu anderen Leuten.“ 400 Jahre später sagt der Ayur-Veda, dass der Arzt nur die beginnende Schwindsucht behandeln solle. Wenn bereits Heiserkeit, Bluthusten oder Durchfall bestehen, sei es zu spät. Die Übernahme der Behandlung kompromittiere dann den Arzt.

Aus dem Alten Ägypten belegen ziemlich eindeutige Knochenbefunde bei Mumien aus verschiedenen Dynastien die endemische Verbreitung der Tuberkulose wahrscheinlich für die gesamte Zeit dieser Kultur. Bildwerke, namentlich Plastiken, die Menschen mit einem typischen tuberkulösen Buckel wiedergeben, kennen wir ebenfalls bereits aus dieser Hochkultur.

Wann die Tuberkulose in den antiken Kulturen zur Epidemie aufflammt, ist sehr wohl festlegbar. Bei Homer tritt sie nicht auf, auch nicht bei Hesiod – aber in den hippokratischen Schriften gibt es bereits eine geradezu klassische Schilderung über den Einbruch der Tuberkulose in eine griechische Welt, und zwar in die der Insel Thasos. Diese Schilderung berichtet etwa 500 v. Chr., wie mit einem Schlage die Bevölkerung der Insel an einer Tuberkuloseseuche mit akutem Verlauf erkrankt und zum Erliegen kommt. Der Schlusssatz sagt: „Als Alleinherrscherin über alle Krankheiten herrschte damals in Thasos die Tuberkulose, die zeigte, dass sie die Allmacht hat, wenn sie will.“ Typisch ist dieses „wenn sie will“. Denn schon Hippokrates kannte auch die chronische Form, die „ptoe“ (das Bluthusten – d. Red.), doch kannte er nicht die dynamischen Beziehungen der akuten zur chronischen Form. Er wusste, dass die Tuberkulose ansteckt, aber er kannte nicht ihren epidemischen Gang und noch weniger wusste er, wie man sie seuchenmäßig bekämpft. Die hohe und späte Antike kannte als Gegenmittel gegen ansteckende Erkrankungen nur die Flucht. Man flüchtete vor der Seuche, aber man tat nichts gegen sie. Wir kennen aus Griechenland eine Prozessverhandlung, die des Isokrates, eines berühmt-berüchtigten Sophisten und Gerichtsredners, der in Athen einen Prozess darum führte, ob ein Testament, das ein Tuberkulöser zugunsten seines Nachbarn gemacht hatte, rechtsgültig sei oder nicht. Isokrates begründete die Rechtsgültigkeit damit, dass dieser Nachbar den Tuberkulösen trotz der Ansteckungsgefahr gepflegt hätte, während die eigenen Kinder, wie üblich, den Kranken verlassen hätten und geflohen wären. Leider ist über den Ausgang des Prozesses nicht bekannt, ob der nachbarliche Samariter das Geld bekommen hat oder ob er als Erbschleicher deklariert und abgewiesen worden ist.

Nun hat bereits die Antike als Therapie das gekannt, was wir heute „konservatives Heilverfahren“ nennen. Die Schilderungen in der galenischen Literatur sind klassisch, sie sind umfassender und in Vielem feiner als selbst die späteren Schilderungen von Hermann Brehmer (1826–1989 und Peter Dettweiler (1837–1904), die nach anderthalb Jahrtausenden die Heilstättenkultur neu entdeckten. Auch kannte die Antike die besonderen Kurorte, und zwar lagen sie genau da, wo sie die Neuzeit wieder geschaffen hat, um Neapel herum, um Sorrent, an der gallischen und italienischen Riviera, in Süd-Spanien, auf Sizilien und in Ägypten. Diese Kurorte sind auch in die Vorphasen der abendländischen Kultur hinüber gegangen. Wir kennen empfehlende Schilderungen der Leibärzte der germanischen Teilkönige, Empfehlungen an ihre bereits von der Tuberkulose bedrohten Herren und Herrinnen, in denen die Riviera-Kurorte noch genannt werden.

Aus diesen Schriften erkennen wir aber noch etwas anderes. Wir sehen wieder dieselben akuten Abläufe der Tuberkulose wie 1000 Jahre vorher auf der Insel Thasos. Diesmal bricht freilich die Tuberkulose nicht in bislang unberührte Gegenden ein, sondern umgekehrt geraten bisher tuberkulosefreie Völker auf ihren Eroberungszügen in Berührung mit verseuchten Populationen. Der Effekt ist derselbe. Die Königs- und Fürstenhöfe der germanischen Reiche sind damals nicht nur in Kampf und Mord, sondern nicht weniger von der Tuberkulose vernichtet worden, weil die bisher tuberkulosefreien germanischen Völker der Krankheit wehrlos gegenüberstanden. Es stirbt zum Beispiel Athalarich, der letzte Erbe Theodorichs des Großen, mit 18 Jahren an der „Auszehrung“, wodurch die Vernichtung des gotischen Weltreiches eingeleitet wurde. Es stirbt noch ein anderer, weit Gewaltigerer, es stirbt Attila in der Hochzeitsnacht mit Ildiko, der Burgundentochter, an einem akuten Blutsturz. Dieses plötzliche Sterben durch einen Blutsturz, das von den Hunnen als eine Art Gottesurteil angesehen wurde, hat zum Rückzug der Hunnen geführt, nicht irgendeine Schlacht!

Nun war die Tuberkulose des sich neu formenden Abendlandes überkommen aus der römischen antiken Kultur. Sie war über die Engsiedlung der spätantiken Großstädte und den ein Maximum erklimmenden Wirtschaftsverkehr aufgestiegen und im spätrömischen Imperium zur chronischen epidemischen Seuche geworden.

Mit dem Verfall der Städte und des Wirtschaftsverkehrs war sie wieder gegangen. Ich nenne es daher selbstverständlich, dass in der ersten Zeit der sich konsolidierenden abendländischen Kultur, also in der freien karolingischen Zeit, die Tuberkulose praktisch fast unbekannt war. Die Lebensform in verstreuten Höfen und vereinzelten Regierungspfalzen genügte nicht mehr, um der Tuberkulose die breite Seuchenbasis zu geben, die sie notwendig hat. Aber ganz ausgestorben ist sie nie. Bei jedem Einbruch einer Tuberkulose häufen sich auch die extrapulmonalen Formen („außerhalb der Lunge“, aber innerhalb des Brustkorbes gelegene Befunde – d. Red.), die freilich in früheren Zeiten unter den verschiedenen Diagnosen laufen. Charakteristische Fälle erkennt man in Abbildungen, in Handschriften, zum Beispiel in Reichenauer Codices, aber auch auf Elendsbildern, wie im Dom von Monreale auf Sizilien. Interessanter und charakteristischer wird die Entwicklung mit dem Aufblühen der neuen und alten Städte. Jetzt wird die ansteckende Krankheit bereits zum Volksbegriff und erscheint im sogenannten Salernitanischen Lehrgedicht (um 1275). Hier werden sieben ansteckende Krankheiten aufgezählt, an zweiter Stelle steht bereits die „ptisis“.

Die interessantere Tuberkuloseschrift dieser Zeit ist eine Lehrepistel des Memminger Stadtrates Ulrich Ellenbog (1435–1499), die eine schon in deutscher Sprache geschriebene Anweisung an eine tuberkulöse Äbtissin aus dem Jahre 1480 darstellt. Diese Anweisung zeigt eine solche Feinheit psychologischer Beobachtung, wie man sie bis heute kaum in einem Lehrbuch findet. Es wird bis ins Einzelne beschrieben, wie diese schon seit sieben Jahren an einer chronischen Tuberkulose leidende Äbtissin sich zu verhalten habe. Das gilt nicht nur für die eingehenden Sondervorschriften über Ernährungsweise, Diät, Anregungsmittel, Lebensform, Ruhetherapie, Training und vieles andere mehr, sondern besonders für die psychotherapeutischen Ratschläge. Sie müsse sich selbst beobachten und sich selbst erkennen, was ihr guttäte. Vor allem müsse sie ihr psychisches Gleichgewicht und ihre Zuversicht erhalten. Der Äbtissin wird weiter geraten, sie solle sich der Gesellschaft von jungen Leuten erfreuen, sich vorspielen und vorsingen lassen, sie solle sich an schönem Schmuck und edlen Steinen ergötzen und sich ein lustiges Gedicht vortragen lassen. Diese Ratschläge werden in feiner Form vorgebracht und bedeuten eine Art Anweisung für ein modernes Heilstättenleben.

Alles das wird in den kommenden Jahrhunderten der sogenannten Neuzeit und des rationalen Individualismus gründlich wieder vergessen. Vom 16. Jahrhundert ab ist diese Form der Therapie und der praktischen Anwendung einfach untergegangen. Aber die Wissenschaft beginnt, sich mit der immer bedrohlicher werdenden Epidemie der Tuberkulose und ihren Problemen zu beschäftigen. Schon Girolamo Fracastoro (1477–1553), der den Begriff der „Syphilis“ geschaffen hat, sagt, dass die Tuberkulose mit der Atemluft übertragen werde, dass sie Seuchencharakter habe und daher wie eine Seuche behandelt werden müsse. Mit dem beginnenden 17. Jahrhundert wird die Tuberkulose als Zerstörerin der Familien erkannt. Man betont die Ansteckung des Ehepartners, die Trennung der Kinder von den kranken Eltern wird verlangt, ja, man geht sogar so weit, die Ehescheidung zu fordern. Man beginnt, immer neue polizeiliche Methoden der Tuberkulosebekämpfung zu ersinnen. Das ist bis heute so geblieben. Es gibt keine Krankheit, bei der so viele papierene Verhaltungs- und Ausrottungsmethoden erdacht und gefordert sind wie bei der Tuberkulose.

Der Mittelpunkt der ansetzenden Großwelle ist deutlich in einer einzigen Stadt. In London ist es im ausgehenden 17. Jahrhundert soweit, dass die Tuberkulose als Seuche die Stadt zu dezimieren beginnt. Der erste Abschnitt, in den die abgesunkene Tuberkulose als aus der Antike übernommener weiter glühender Funken sich fortschleppt und allmählich zur Epidemie aufflackert, ist zum Abschluss gekommen. Im 18. Jahrhundert, im Aufblühen der modernen Wirtschaft, ist sie zur flammenden Seuche geworden und diese Flamme droht von London aus das Haus der menschlichen Gemeinschaft zu verzehren.

Wie kam es damals zu dieser Krise? Wir sprechen ja immer vom dunklen Mittelalter, das badefreudige Mittelalter war jedoch keineswegs so dunkel. Dunkel wurde erst die wasserscheue Neuzeit. Wir glauben zum Beispiel immer, im Mittelalter hätte man eng zusammengedrängt gelebt. Das ist ein großer Irrtum. Die Häuser waren zwar eng, der Wärme wegen im Winter, auch die Gassen waren eng. Aber hinter jedem Haus lag ein großer Garten. Die Generalrechnung ist sehr einfach, denn die Stadtmauer grenzte den städtischen Wohnraum ab. Innerhalb der Mauern von Köln haben im Mittelalter niemals mehr als 40.000 Menschen gelebt. Innerhalb derselben 1182 entstandenen Mauern der Stadt, die damals kaum 15.000–20.000 Menschen zählte, lebten vor der Schleifung der Wälle (1882) am Ende des 19. Jahrhunderts 180.000 Menschen. Ähnliches wird man von den meisten anderen Städten nachweisen können. Die Einwohnerzahl von London ist in diesen ersten Jahrhunderten der Neuzeit von knapp 40.000 auf 400.000 gestiegen, ohne dass London sein Territorium in dieser Zeit wesentlich verändert hätte. So war denn die Tuberkulose, die im 13. Jahrhundert zum neuen Start angetreten war, im 17. Jahrhundert als Großseuche des Abendlandes da. Die Sterbeziffern müssen damals in London, nach heutiger Rechnung, etwa 200 auf 10.000 Personen im Jahr betragen haben. Heute sind es nur 2 bis 3.

Von London aus dringt dann die Tuberkulose den Seeweg entlang weiter. Das Festland Europas wird jetzt von einer Großwelle vom Westen aus erstürmt. Die ersten Städte sind Amsterdam, Antwerpen und Rotterdam, dann vor allen Dingen die nordischen Hafenstädte von Oslo und Stockholm bis nach Helsingfors. In Deutschland kommt als erste Stadt Hamburg an die Reihe. Überall dort steigt die Tuberkulosesterblichkeit Ende des 18. Jahrhunderts auf etwa 100–150 je 10.000 Lebende. Von dort dringt die Tuberkulose auf dem Wasser- und Landweg in die nächstgrößeren Handelsbezirke ein, so in das Rheingebiet. Es dauert etwa 100 Jahre, ehe es hier überall soweit ist. Von dort aus geht der Weg dann landeinwärts, das freilich ist schon die Geschichte der Tuberkulose des 19. Jahrhunderts. Es gibt aber noch einige frühere Nebenströmungen. Eine dieser wichtigen Nebenströmungen geht über Wien und Breslau und kommt aus Konstantinopel, dem alten Byzanz. So wird die Tuberkulose schon frühzeitig zur typischen „Wiener Krankheit“.

Interessanter ist ein anderer noch wenig erforschter Nebenweg. Er wird als Therapiewelle bezeichnet. Auch er beginnt in London und durchläuft das wohlhabend gewordene südliche England. Die reicheren Leute versuchen auszuweichen, sie suchen Heilung im Mittelmeergebiet. Sie fahren nach Italien, besonders nach Süditalien, nach Sizilien und Spanien. Dort war die Tuberkulose seit der römischen Antike weitgehend ausgestorben. Diese englischen Tuberkulosekranken – als Goethe nach Italien fuhr, waren dort etwa 20.000 Engländer, davon 10.000, die Heilung von ihrer Schwindsucht suchten – treffen daher auf ein unberührtes Volk und schleppen die Tuberkulose hinein. Wieder gibt es seuchenartige Explosionen. 1751 ist es soweit, dass der spanische König Ferdinand VI. das erste Tuberkulosegesetz erlässt, ein Gesetz, welches noch auf andere Seuchen exemplifiziert, aber die Tuberkulose voll mit erfasst. 30 Jahre später erließ Philipp IV. von Neapel und Sizilien das berüchtigte Sondergesetz gegen die Tuberkulose. Es ist ja keineswegs das Schreibtischgesetz einer Polizeibürokratie, es ist die Realisierung einer bis ins Einzelne gehenden Ausarbeitung der Universitäten und Medizinalkollegien. Es sind Polizeivorschriften, wie man sie sich schärfer nicht denken kann. Bald darauf folgen die norditalienischen Städte. Von Venedig und Mailand bis hinunter nach Rom entsteht eine Serie von Tuberkulosegesetzen, das eine noch schärfer als das andere. Es handelt sich also um den ersten Versuch der wissenschaftlichen Fachwelt, der Tuberkulose mit schärfster polizeilicher Ausrottung zu begegnen.

Das ganze Rüstzeug wird aufgeboten, von der Meldepflicht, deren Unterlassung mit 100 Dukaten und im Wiederholungsfalle mit Verbannung auf 10 Jahre bestraft wird, bis zur Zwangsisolierung. Und der Erfolg? Ich will es kurzfassen: Es wird ein einziges Debakel, obwohl die Vorschriften, zum Beispiel dass die Häuser der Tuberkulösen abzureißen und die Möbel zu verbrennen sind, eingehalten worden sind. Die Tuberkulosekrankheit ging nicht zurück. Besonders die Spanier haben das ganze System bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts durchgeführt.

Es gibt einen höchst interessanten Brief der George Sand (1804–1876). George Sand hatte damals Alfred de Musset verlassen und lebte mit Frederic Chopin zusammen. Chopin hatte eine chronische Phthise. Die Sand hatte ihre beiden Kinder von Musset bei sich und bemutterte Chopin. Sie suchte nun Heilung für ihn in Italien. Jedesmal, wenn Chopin hustete und Blut spuckte, wurde er erpresst und schließlich doch verraten, so dass er weiter musste. So ist das Ganze eine traurige und elende Flucht vor der Tuberkulosepolizei und den Erpressern. Durch ganz Italien führte die Flucht. Schließlich landeten sie in ihrer Verzweiflung auf Mallorca, wo ein Kloster sie aufnahm und in einer dunklen feuchten Zelle beherbergte. Sie kennen vielleicht die große f-Moll-Fantasie von Chopin, die in dieser Zeit geschrieben wurde, ein Spiegelbild des tuberkulösen Krankheitserlebens, der Lebenssehnsucht, des toxischen inneren Erlebens und Sichaufbäumens, der nachfolgenden Depression, der Resignation und des Sich-Fügens in Gottes Willen. Chopin war sterbenskrank und wollte zurück nach Frankreich, sogleich begann die Sand für ihre Kinder zu fürchten, aber kein Schiff nahm sie auf, sie sind in diesem mittelalterlichen Kloster auf Mallorca festgebannt. Schließlich bestechen sie einen Händler und werden auf einer Schweinebarke, mitten unter Schweinen, nach Barcelona gebracht. In Barcelona bekommt Chopin in der ersten Nacht einen Blutsturz und wird prompt vom Gastwirt erpresst. Das letzte Geld wird ihnen weggenommen, weil das Bett verbrannt und das Zimmer neu tapeziert werden müsse. Schließlich werden sie von Freunden nach Paris zurückgeholt.

Wenn man diesen Brief der George Sand liest und ein wenig nachdenkt, dann wird man Gegner jeder extrem-polizeilichen Tuberkulosebekämpfung. Schon um die Zeit der Französischen Revolution melden sich die ersten Gegenstimmen. Sie sagen, dass alle diese scharfen ausgeklügelten Bestimmungen gar nichts nützen. Man müsse der Tuberkulose als einer Menschheitsgeißel gewiss mit aller Klugheit und Entschiedenheit begegnen, aber dürfe das menschliche Mitleiden nicht verbannen. Es kommt jetzt die Zeit, in der die Tuberkulose zum rein wissenschaftlichen Stoffgebiet wird. Sie lieferte den großen Pathologen von Laonnec bis Rudolf Virchow gewaltige Diskussionsprobleme, bis dann die neue Ära von Robert Koch eine bis heute noch nicht geleerte Fülle von neuen bakteriologischen und serologischen Groß-Problemen bringt.

Zurück zur Epidemiologie! Wie und unter welchen Bedingungen ist die Tuberkulosewelle im letzten Säkulum weitergelaufen? Man kann einen Generalsatz aufstellen. Es gibt ein großes Wettrennen, und dieses Wettrennen ist auch heute noch das charakteristische Zeichen: das Wettrennen zwischen der Verkehrsintensivierung auf der einen Seite, die die Tuberkulose verbreitet, und der Hygienisierung der Lebensform auf der anderen Seite, die die Tuberkulose einengt. In Finnland gibt es eine Statistik, die einzigartig ist. Die Dänen hatten 1760 angeordnet, das in jedem Kirchenbuch neben dem Todesdatum und den familiären Mitteilungen auch die Todesursache anzuführen sei. Die Dänen als Besatzungsnation in Skandinavien haben das im eigenen Lande selbstverständlich nicht durchgehalten, aber die Finnen haben es weitergemacht. So ist Finnland das einzige Land in der Welt, das seit über 200 Jahren über eine auf den damaligen diagnostischen Möglichkeiten basierende Todesursachenstatistik verfügt.

Nun haben wir aus der Zeit von 1909–1913 aus den damaligen Statistiken gelernt, dass die Tuberkulose in den Städten häufiger sei als auf dem Lande. Das war damals auch so, ist aber kein Generalgesetz. Denn die Tuberkulose reagiert epidemiologisch auf die Gestaltung der zivilisatorischen Lebensform, und diese wandelt sich fließend, und mit ihr ändert sich die Tuberkulose. Wenn die Tuberkulosewelle in den Städten ob des Vorsprungs der Verkehrsintensivierung zuerst zur Epidemiehöhe ansteigt und dann wegen des Vorsprunges der städtischen Hygiene auch wieder zuerst absinkt, dann ist sie ob des Weiterschreitens der Verkehrserschließung auf dem Lande noch im Voranschreiten. Die Folge ist, dass sich dann die Stadt- und die Landkurve kreuzen. In Finnland haben sie sich 1940 gekreuzt, nicht anders als in vielen anderen Ländern.

Wie sieht nun zur Zeit das Gesamtbild aus? In Europa ist der Positiv-Faktor der Alltagshygienisierung bereits dem Negativ-Faktor der Verkehrserschließung und ihren nachteiligen Folgen eindeutig überlegen. Wir haben infolgedessen eine seit 1850–1870 stark absteigende Kurve. Die Kurve beginnt in England schon von 1820 abzusteigen. In Hamburg kommt der Umschwung 1840. Im Osten, etwa in den Regierungsbezirken Kolberg oder Allenstein, wird der Umschwung erst um die Jahrhundertwende erreicht, in vielen Bezirken Italiens und Ungarns und des europäischen Ostens erst 1920 und später. Den ersten großen Anstieg sehen wir im 1. Weltkrieg, den zweiten, kleineren in der Inflation und den dritten Riesenanstieg im letzten Kriege. Der Rückgang erfolgte jedoch auch diesmal relativ schnell, denn schnell passte sich der Zivilisationsstand wieder dem Frieden an.

Dieses hartnäckige Zurückpendeln eines einmal erreichten zivilisatorischen Lebensstandes auf und über die alte Höhe hinaus ist ein erstaunliches Phänomen der abendländischen Kultur. Vor dem ersten Weltkrieg waren wir reich, aber unsere zivilisatorische Lebensform war dem keineswegs angepasst. Nach dem ersten Weltkrieg waren wir arm, und trotzdem blieb der Hygienisierungsfortschritt bestehen. In der Zeit nach dem letzten Kriege, in der die Wohnungen zerstört waren und fehlten, wurde trotzdem die Alltagsauberkeit weiter aufrechterhalten. Die Tuberkulose hat in ihrer Unbestechlichkeit prompt darauf reagiert. Nun kursorisch noch einige Besonderheiten.

Der Nationalsozialismus hat bereits im Frieden die männliche Arbeitskraft übermäßig beansprucht. Das Kriegsleben ist erst recht für den Mann zerreibend gewesen und so sehen wir nach diesem 2. Weltkrieg ein neues epidemiologisches Faktum. Die Tuberkulose hat beim erwachsenen Mann um das 3-fache, in Berlin um das 12-fache mehr zugenommen als bei den Frauen. Auch im 1. Weltkrieg haben wir eine Verschiebung gesehen, jedoch nicht zwischen Mann und Frau, sondern zwischen den Altersklassen.

Bis in die Gegenwart spielen Alltagshygiene, Nahrung, Arbeitsschutz, Distanzgefühl und natürlich die Sozialversicherung eine große Rolle, wie die Sicherung der öffentlichen Krankheitsversorgung. Die überwältigenden Fortschritte in der Therapie haben die Chancen der Erkrankung erheblich verbessert und damit die Todeszahl verringert. Es bleibt aber bestehen die Drohung eines Katastrophenereignisses. Ich verzichte auf eine Aufzählung und Analyse der zahlreichen in dynamischer Verbindung einwirkenden Einzelfaktoren, die die Tuberkulose des letzten Jahrhunderts entscheidend gestaltet haben. Typisch ist, dass jeder Vertreter eines Einzelfaktors in diesem komplexen Gebiet sich und sein bescheidenes Äderchen als entscheidend für den Gesamtstrom ansieht.

Mir scheint manchmal, dass man den wichtigsten Wirkungsfaktor hierbei völlig vergisst. Es ist die mühselige, aufopferungsvolle und unverdrossene Kleinarbeit unserer Frauen. Das gilt sowohl für die Hausfrau, die mit Aufbietung aller ihrer Kräfte und mit einer bewundernswerten Zähigkeit die Alltagshygiene und den erreichten Stand der zivilisatorischen Lebensform ihres Haushalts und ihrer Familie durch alle Krisen und Belastungen zu wahren verstanden hat. Das gilt aber auch für unsere Fürsorgerinnen. Nur wir Tuberkulose-Fürsorge-Ärzte wissen zu beurteilen, was es heißt, Fürsorgerin zu sein und wie schwer ihre Arbeit ist.

Vielleicht wird die Entwicklung auch eine ganz andere sein? Vielleicht wird das Rädergetriebe einer mechanistisch gewordenen Zivilisation auch die Tuberkulosebekämpfung zum mechanisch ablaufenden Uhrwerk werden lassen. Die Erfassung und Diagnose sind bereits weitgehend eine Funktion des Organisationsapparates und nicht mehr der ärztlichen Einzelleistung. Soll man darüber trauern und sich ihr als eine Art von Entseelung entgegenstellen? Nichts wäre törichter. Die Gestaltung der Lebensform geht ihren Weg und mit ihr die Tuberkulose und mit ihr die Tuberkulosebekämpfung. Anpassung im Sinne der bestmöglich erreichbaren Gegenwirkung ist die Aufgabe. Nicht die Technik fordert oder bringt die Entseelung, es ist immer nur der Mensch selbst, der die Entscheidung in sich trägt. Möge die Technik der Tuberkulosebekämpfung fortschreiten bis zum Erfolge, möge der Mensch aber Sorge tragen, dass dieser Kampf gegen die Tuberkulose trotzdem unter der Entscheidung des Herzens erfolgt, das den Menschen an den Menschen bindet!