25. Jahrgang | Nummer 1 | 3. Januar 2022

Vom Werden des unvergesslich Schönen: Briefwechsel Strauss – Roller – Hofmannsthal

von Reinhard Wengierek

Um 1900 war es denn soweit in der abendländischen Welt des Theaterbühnenbilds: „Entrümpelung“ wurde angesagt, zumindest unter den Avantgardisten der Zunft. Zu denen gehörten beispielsweise der Engländer Edward Gordon Craig, der Schweizer Adolphe Appia sowie, mit etwas vornehm moderaterem Avantgardismus, der Wiener Alfred Roller (1864–1935).

Also Schluss mit flink hingestellten historisch-realistischen Fundus-Dekorationen, statischen Rampenbeleuchtungen, hübsch illusionistischen Kulissenbühnen – und noch dazu mit herumsteherischen Personenarrangements. Die Bühne sollte zu einem neuen Wahrnehmungsraum werden – freilich vor allem unter Nutzung ganz neuer technischer Möglichkeiten (Elektrizität, Licht, Drehbühne). Und möglichst einer psychologisch schlüssigen Figurenführung.

Alfred Roller, Professor der Wiener Kunstgewerbeschule und Sezessionist, wurde früh schon als „Bühnengenie“ entdeckt – weshalb ihn Gustav Mahler an die Hofoper holte. Nach dessen Abgang an die New Yorker Met ergab sich dann die synergetische Zusammenarbeit mit dem Komponisten Richard Strauss und dem Dramatiker Hugo von Hofmannsthal, denen Roller schon 1906 ins Auge stach, als er bei Max Reinhardt (der ihn überhaupt zum Schauspiel brachte) im Deutschen Theater Berlin das Hofmannsthal-Drama „Ödipus und die Sphinx“ ausstattete. Hofmannsthal, das „unvergesslich Schöne“ von Rollers Arbeiten feiernd, schrieb später über dessen „Elektra“-Ausstattung, er habe sie bisher nur gehört, nicht gesehen.

Roller, Hofmannsthal und Strauss wurden bis zu Hofmannsthals frühem Tod 1929 mit 55 Jahren zu einem kongenialen, weithin bewunderten Dreamteam des europäischen Theaters, in dem auch Reinhardt eine bedeutende Rolle einnahm.

In einer seiner leider nur wenigen theoretischen Reflexionen schrieb Roller: „Für Wort und Gebärde von Dichter und Darsteller den willig mitschwingenden Luftraum herzustellen ist Aufgabe der äußeren Bühnengestaltung. Der Sinn meiner Arbeit enthüllt sich in der Aufführung, sonst nirgendwo.“

Roller setzte, oftmals gegen Widerstände des starren Repertoire-Routinebetriebs, also „gegen die Impotenz der Tradition“, durch, „dass das Bühnenbild für das dramatisch-musikalische Bühnengeschehen nicht nur einen Rahmen, sondern Atmosphäre und Empfindungsgehalt“ zu schaffen habe. Das gesamte Bühnenbild (einschließlich Kostüm und Maske) also als ein „Bedeutungsraum“. Stets eingedenk der Tatsache, dass, was die Oper betrifft, sie nie losgerissen dürfe von ihrem Nährboden, dem Theater.

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Damit lag Roller ganz auf Linie mit Strauss und Hofmannsthal und Reinhardt. Der Ausstatter hat, so das Epoche machende Diktum, gleichberechtigter Mitschöpfer zu sein; was gegen den bloß dekorativen Repertoirebetrieb geht. Roller lakonisch: „Theater ist eben Zusammenarbeit.“

Von diesen Widerständen ist ganz sachlich oder auch kämpferisch die Rede in dem von Christiane Mühlegger-Henhapel und Ursula Renner herausgebrachten, zwei Jahrzehnte währenden Dreifach-Briefwechsel zwischen Roller, Hofmannsthal und Strauss. Da ging es ausschließlich ums Künstlerische – untereinander jedoch nie im Befehlston, immer im Modus vornehmen Bittens und Wünschens. Man stritt gegen die elenden Reibereien mit dem üblichen Opernbetrieb. Da war man sich ganz und gar einig und zog an einem Strang. Persönliche Animositäten, die es womöglich auch gab, sind, abgesehen von hübschen Ironien, nicht dokumentiert.

Übrigens, Strauss schimpfte, wir sind bei der Uraufführung des „Rosenkavaliers“ anno 1911 in der sächsischen Residenz, ziemlich ungeniert über das „schrundige Dresden“ mit seinen musikalisch zwar glanzvollen (die Hofkapelle unter Schuch, die tollen Solisten), inszenatorisch jedoch überwiegend banalen Produktionen. Obendrein ging sein Ärger gegen die bockige Intendanz, die sich schon allein aus Gründen der Kostensteigerung gegen neuartige Anforderungen des Spielbetriebs sperrte. Wie auch die in ihrer Zeit hochleistungsfähigen Werkstätten durchaus eitel am Gewohnten klebten und Pfründe verteidigten.

Die kompakten Querelen ums interpretatorisch Neuartige werden signifikant deutlich gerade an dieser schließlich als Sensation in aller Welt gefeierten „Rosenkavalier“-Uraufführung. Allein die Ausstattungskosten stiegen auf happige 40.000 Mark durch das bis dato unbekannt aufwändige Bühnen- und Kostümbild von Alfred Roller sowie durch den vom Komponisten Strauss und Librettisten Hofmannsthal nach allerhand Ärger hinzugezogenen, extra aus Berlin geholten Co-Regisseur Max Reinhardt mit seinen unerhört ausführlichen Sonder-Proben.

Dieser „Rosenkavalier“ – das Publikum kam mit Sonderzügen aus der Reichshauptstadt – war sozusagen der Startschuss der legendären kollektiven Zusammenarbeit des Dreier-Dreamteams Strauss-Hofmannsthal-Roller. Roller brieflich an seine Ehefrau Mileva: „Die Künstler sind ganz perplex über die ihnen offenbar sehr fremde Intensität der Arbeit. Strauss ist rücksichtslos und streng.“

Roller bekam 5000 Mark Honorar für seine Arbeit einschließlich des akribisch bis ins kleinste Detail erarbeiteten, kunstvoll illustrierten Regiebuchs nebst Figurinen. Dafür vermochte Strauss, der ansonsten ein hartes Händchen hatte fürs Geschäftliche wie übrigens auch fürs Managen der Arbeitsprozesse, erstaunlicherweise kein Sonderhonorar herausschlagen.

Nebenbei bemerkt: Diese Rollerschen Regiebücher, die er stets, also auch bei den folgenden Großprojekten mit Strauss und Hofmannsthal, herstellte, sind natürlich Gegenstand unendlicher Hin- und Herkorrespondenzen – in diesem Brief- und Theatergeschichts-Geschichtenbuch erstmals dokumentiert. Rollers Regiebücher, Strauss und Hofmannsthal feiern sie unentwegt, sind ein frühes Vorbild etwa der späteren Modellbücher von Bertolt Brecht. Waren doch sowohl dem Komponisten als auch dem Librettisten höchst gelegen an einer kanonisierten Aufführungspraxis. Um das Schlimmste zu verhüten, was womöglich, so Hofmannsthal, von „trottelhaften Provinzregisseuren“ künftig veranstaltet wird mit ihren Schöpfungen.

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Erstaunlich, dass in diesem kompakten Buch erstmals die zentrale Rolle Rollers als Ko-Autor umfassend sichtbar wird in all den Korrespondenzen. Rollers Briefe wurden bislang bei all den vielen Veröffentlichungen über Strauss-Hofmannsthal weitgehend und unverständlicherweise beiseitegelassen. Jetzt kann man detailreich die Produktions-Interna inspizieren beispielsweise zu „Arabella“, „Frau ohne Schatten“, „Ägyptische Helena“, zur Neufassung des Beethoven-Festspiels „Die Ruinen von Athen“ oder zu „Parsifal“ 1934 in Bayreuth, den Strauss dirigierte. Oder die zur Arbeit an der von Hofmannsthal initiierten, theatergeschichtlich hoch bedeutenden Ausgrabung von Büchners Dramenfragment „Woyzeck“ 1913, bei der Roller als Dramaturg und als Ausstatter wirkte.

Faszinierend ist nicht nur das opulente Register und Literaturverzeichnis. Bestechend ist vor allem die unglaublich ausführliche, auch entlegene Dokumente sowie Briefe von Dritten und Vierten hinzuziehende Kommentierung (Extra-Bravo!) dieser übersichtlich gestalteten, prachtvoll ausgestatteten Edition der 173 Künstler- und auch Lebensbriefe dreier Jahrhundertfiguren des Operntheaters. Gerade diese profunden Kommentare beleben auf indirekte Art die Briefe und illustrieren direkt und sehr weitgehend die biografischen, politisch-historischen, sozialen und natürlich theater-, musik- und kunstgeschichtlichen Hintergründe. So entsteht eine große, beinahe epochale Erzählung. Spannend nicht nur für Fachleute, sondern sehr anschaulich gerade auch für begeisterte Opern- und Theaterfreunde. Was für eine Fundgrube.

Für Statistik-Liebhaber sei gelistet: Von Hofmannsthal gingen 64 Briefe an Roller, auf die 45 Antworten enthalten sind; Strauss hinterließ nur 36 Schreiben an Roller, auf die 28 Antworten vorliegen.

Dafür erhielt Alfred Roller am Dienstag, 24. Januar 1911, zwei Tage vor besagter „Rosenkavalier“-Premiere, einen Klavierauszug vom ersten Akt zum Geschenk – was für eine großartige Geste der Wertschätzung. Ziemlich einzigartig. – Strauss’ Widmung: „Dem genialen Mitschöpfer, dem getreuen Helfer und Freunde in verehrungsvollster Dankbarkeit und Bewunderung.“ Dazu in Abwandlung einer Textzeile der Figur des Ochs „Mit dir keine Oper zu lang …“ – die nun den Buchtitel hergibt.

Roller lakonisch, allgemeingültig bis heute: „Ein jedes Kunstwerk trägt das Gesetz seiner Inszenierung in sich.“

Der durchweg bescheidene, eher nüchterne Roller am 26. Januar 1911 nach üppiger Premierenfeier im Dresdner Bellevue-Hotel am Elbufer, wo der Dirigenten-Komponist ansonsten nach den Proben gern Skat spielte, an Mileva: „Keine Oper ohne Sie, beteuerte Strauss, klopfte mich auf Schultern und Knie – es hätte nur noch die Umarmung gefehlt … Intendant Graf Seebach, anfangs gegen mich, kegelte sich aus vor Herzlichkeit. Sogar einen Orden wollten sie mir geben trotz meines Abwinkens …“

Hugo von Hofmannsthal, Alfred Roller und Richard Strauss: „Mit dir keine Oper zu lang…“. Briefwechsel. Herausgegeben von Christiane Mühlegger-Henhapel und Ursula Renner, Benevento Verlag, München/Salzburg 2021, 464 Seiten, 58,00 Euro.