24. Jahrgang | Nummer 25 | 6. Dezember 2021

Springt John Jeffries über Bord?

von Detlef Jena

Es gibt in der Geschichte realistische und fiktive Schreckensrufe, die sich tief in das ängstliche Gedächtnis selbst mutiger Menschen und Völker eingeprägt haben: Hannibal vor den Toren, ächzten die alten Römer. Die Hunnen kommen, klagten die mittelalterlichen Europäer. Das Ende des christlichen Abendlandes verhießen die Osmanen und immer wieder einmal stehen die Russen drohend an allen Grenzen. Das Schreckenswort der Gegenwart dräut global über das Erdenrund: Klimawandel! Ritter, Tod und Teufel verheißen jenseits der schlichten magischen Zahl von 1,5 Grad die Apokalypse mittels Kohleschaufel, Ölpumpe und Rauchkaminen mancherlei Art. Justament zu einem Zeitpunkt, da wieder einmal die Kinder dieser Erde im Schatten des verblichenen Michail Bakunin mobil gemacht werden (es hat in der Geschichte der Menschheit noch nie eine Regierung gegeben, die nicht unter Anwendung äußerster Gewalt gezwungen werden musste, ihre Wahlversprechen einzuhalten), die Mutter Erde zu retten, präsentieren die Reichsten der Reichen ihren strahlenden Ausweg aus der irdischen Krise: Wir können es uns leisten, das vergilbende Jammertal zu verlassen und besiedeln bald schon ferne Welten! Sicherlich, die menschlich geformte Technologie bietet den Ausweg aus der Krise! Die Hupfer in den Orbit sind zwar och kurz und teuer. Aber das wird schon – die Vorväter haben ja auch klein angefangen und Ikarus hat sich dabei gar die Flügel verbrannt. Hier ein optimistischeres Beispiel für das große galaktische Spiel aus jener Zeit als alles begann:

Der Franzose Jean-Pierre François Blanchard (1753–1809) widmete sein ganzes Leben dem Entfliehen der Erdgebundenheit. Zunächst experimentierte er erfolglos mit Gestellen, die den Flügelschlag der Vögel nachempfanden. Der Heißluftballon der Brüder Montgolfier und der Gasballon des Jaques Alexandre Cesar Charles veranlassten Blanchard, die Ballonfahrt für die eigene Fortbewegung, vielleicht sogar bis zum Mond zu nutzen. Im Frühling 1783 wagte er sich zum ersten Mal in den noch azurblauen Himmel über Paris. Ein Jahr später erschreckte er mit seinem Ballon Bauern in der Normandie. Die hielten Blanchard für ein göttliches Wesen aus dem noch weitgehend finsteren All. Erst als er den Mantel herab warf, erkannten die normannischen Landleute am Chic der Pariser Mode die Realität eines natürlichen Menschen in der Luft an.

Blanchard plante den kühnen Versuch, erstmals von Dover nach Calais über den Ärmelkanal zu fahren. Neben Energie und Erfindungsreichtum benötigte der Luftpionier das Geld reicher Zukunftsoptimisten. Er hielt er es für segensreich, wenn er sich mit einem cleveren Anglo-Amerikaner zwecks Vermarktung der spektakulären Aktion verband und er fand in dem in London lebenden Arzt John Jeffris einen geeigneten Partner. Gemeinsam starteten sie in England eine Werbekampagne und fanden zahlungswillige Sponsoren – vor allem Jeffris selbst zahlte den wesentlichen Beitrag. Dann schlossen sie einen Vertrag. Jeffris durfte unter der Bedingung mitfahren, dass er freiwillig über Bord springt, falls der Erfolg des Unternehmens durch zu viel Ballast in der Gondel gefährdet würde. Gott sei Dank stand noch kein Ausflug in schwerelosen Raum zur Debatte!

Eigentlich eine Zumutung, aber es war ja sein freier Wille und damit ein Menschenrecht. Am 7. Januar 1785 startete das Dream-Team in Dover – gewann schnell an Fahrt und Höhe, jedoch ohne Nachhaltigkeit. Zwei Stunden lang mussten sie Stück um Stück ihrer Ausrüstung abwerfen, um nicht in die aufgewühlte See zu stürzen. Zuletzt ging es an die Wäsche: Bis auf die Unterhosen zogen sich der spindeldürre Blanchard und der ebenso große wie beleibte Jeffris aus – im Januar! Noch ehe Jeffris vertragsgerecht springen musste, erreichten sie Calais und wurden von einer jubelnden Menschenmenge begrüßt.

Dem „ersten fliegenden Amerikaner“ reichte die Erfahrung. Er ging in die Staaten zurück, schrieb ein Buch über seine Erlebnisse und diente dem Wohl der Menschheit wieder als Mediziner. Blanchard witterte das große Geschäft und mauserte sich zum professionellen Ballonschausteller, der seine Künste in vielen Ländern Europas und auch in den USA vorführte. Er rechnete sich das Verdienst an, den Fallschirm erfunden zu haben (unverzichtbar für heutige Rückkehrer aus dem Orbit!) und warf zum Gaudi der Zuschauer Tiere aus dem fahrenden Ballon ab – die auch wohlbehalten auf der Erde landeten.

Legendär wurde die Ballonfahrt über Frankfurt am Main vom 3. Oktober 1785. Zur besten Messezeit strömten nahezu 100.000 Menschen auf die Bornheider Heide und zahlten gerne bis zu elf Gulden Eintritt. Blanchard schrieb über diese seine 15. „aerostatische Reise“: „Der Wind Nord-Ost war ziemlich stark, der Himmel war überall ganz bedeckt und das Barometer stand unter der Linie „Veränderlich“. Bei 6000 Fuß Höhe hörte ich drei Kanonenschüsse, die der Herr Landgraf von Homburg bei meiner Vorüberfahrt zu lösen befohlen hatte … Als ich eine mit Waldungen gezierte Bergkette vor mir hatte, erhob ich mich wieder in der Entschließung, darüber hinweg zu segeln einen Versuch zu machen … Der Himmel trübte sich mehr und mehr und meine Luftkugel befand sich ungefähr auf dem Durchmesser in den Wolken. Nicht weiter wollte ich nun in die Wolken gehen, um mich nicht dem Gesicht der mich beobachtenden Menschen zu entziehen. Ich hörte sehr deutlich den Klang der Glocken, die Flintenschüsse, und konnte mit meinem Teleskop Dörfer und Städte sehr genau unterscheiden.“ Eine wahrhaft deutsche Geschichte.

Drei Landungsversuche musste Blanchard unternehmen, ehe er am Ufer der Lahn nahe Weilburg sicher aufsetzen konnte. Im Schloss von Weilburg wurde er von dem befreundeten Fürsten Carl von Nassau mit einem Festmahl gefeiert. Mit dem „herrschaftlichen Wagen“ fuhr man ihn nach Frankfurt zurück. Ein Fest folgte dem anderen und besonders schön war ein Empfang im Römer, bei dem ihm der Rat „50 Stück doppelte Krönungsstücke in Gold von der Krönung Kaiser Josephs II. von 1764, hundert Dukaten im Wert, überreichte.“ Auch dieser Ausflug in deutsche Lande hatte sich gelohnt!

Das Ende geriet tragisch. Am 7. März 1809 starb er bei einer Ballonfahrt durch einen Schlaganfall. Die Menschheit hat ihm gedankt: Ein Mondkrater von 40 km Durchmesser trägt seinen Namen – genug Platz für die Landung mit einer von Raketen angetriebenen Schachtel voller wagemutiger Menschen mit Schaufel und Pumpe, natürlich im mondsicheren Schutzpyjama. Auf dem Mond? Nicht doch, wenn schon, dann irgendwo jenseits der Milchstraße. Doch wer weiß schon, ob sie dort auch mit Kanonensalut empfangen werden oder sich vielleicht sogar wieder der Wäsche entledigen müssen. Es könnte ja sein, dass transgalaktische Wesensrechtskonventionen den Beruf eines irdischen Milliardärs gar nicht definierten.