25. Jahrgang | Nummer 1 | 3. Januar 2022

Paul McCartneys Leben in 154 Songs

von Manfred Orlick

Unzählige Male wurde Paul McCartney gebeten, eine Autobiografie zu schreiben, aber nie war die richtige Zeit dafür. Songschreiben war das Einzige, das immer funktionierte, egal ob zu Hause oder unterwegs. Außerdem hat er nie ein Tagebuch geführt. Er hat nur seine Songs, doch die enthalten ja sein Leben, seine Gedanken und Träume und erfüllen damit denselben Zweck wie eine Autobiografie. Also erzählt er kurzerhand in den zweibändigen „Lyrics“ sein Leben anhand seiner Songtexte. In der mit knapp 900 Seiten umfangreichen Neuerscheinung beleuchtet er 154 seiner Songtexte, indem er ihnen kurze, biografische Essays zur Seite stellt.

Die Idee zu diesem Buch, welches er zusammen mit dem irischen Dichter und Pulitzer-Preisträger Paul Muldoon geschrieben hat, entstand vor fünf Jahren. Auch wenn die Texte meist nur eine Länge von ein, zwei Seiten haben, dennoch eine Mammutaufgabe für den kurzen Zeitraum. In vielen Gesprächen analysierten die beiden die Entstehung und die Inspirationsquellen der Songs, die bei McCartney oft zu neuen Selbsterkenntnissen führten. So bekennt McCartney in seinem Vorwort, dass die Texte „vieles ins rechte Licht gerückt haben“.

McCartney kramt in seinen Erinnerungen und gibt Informationen und Anekdoten zu seinen Songs preis. In vielen seiner Lieder spiegeln sich die Begegnungen mit Menschen wider, die er in und um Liverpool gekannt hat. Häufig werden die Eltern erwähnt. Mitunter blickt er ziemlich überrascht auf seine einmalige Karriere zurück: „Bis heute ist es mir ein Rätsel, wie das alles passiert ist.“ Die ersten Songtexte gehen auf das Jahr 1956 zurück, ein Jahr bevor sich die beiden Teenager Paul McCartney und John Lennon kennenlernten und daraus eine langjährige Songwriting-Partnerschaft entstand. In dieser frühen Phase schrieb er zum Beispiel den Song „I Lost My Little Girl“, der aber erst im Live-Album „Unplugged“ 1991 veröffentlicht wurde. Die letzten McCartney-Texte stammen aus dem Jahr 2018. Die Songs sind alphabetisch angeordnet, sodass sich die künstlerische Entwicklung kaum ablesen lässt. Aber auch eine chronologische Aufreihung hätte sicher nur wenig zu einer autobiografischen Lesart beigetragen, da McCartney in seinen Texten oft in unterschiedliche Lebenssituationen abschweift und in seinen Erinnerungen umherspringt. Die Songtexte für sich allein sind jedoch keine großartige Dichtkunst, erst in Verbindung mit der Musik wurden sie zu einem Kunstwerk.

Die 154 Beiträge, in denen sich McCartney als charmanter und humorvoller Geschichtenerzähler entpuppt, vermitteln einen kaleidoskopartigen Einblick in sein Leben und Werk. So erzählt er, dass er bei „Eleanor Rigby“ lange nach einem Namen für die Hauptfigur des Songs gesucht hatte und sich wahrscheinlich dann im Unterbewusstsein an einen Grabstein auf dem Friedhof der St Peter’s Church in Woolton erinnerte. Mit „Hey Jude“ – zunächst „Hey Jules“ – wollte er Lennons fünfjährigem Sohn Julian „Jules” Mut machen, nachdem der Vater die Familie verlassen hatte. Als 1966 eine Flut von Sommer-Songs (zum Beispiel „Summer in the City“ von The Lovin’ Spoonful oder „Sunny Afternoon“ von den Kinks) erschien, wollten The Beatles auch etwas Sonniges schreiben und so entstand der Song „Good Day Sunshine“. Viele der Episoden sind sicher schon bekannt, aber selbst eingefleischte Beatles-Fans werden Neues und Überraschendes finden.

Neben den Erinnerungskommentaren gibt es zu allen Songtexten ein kurzes Datenblatt mit Angaben zu Urheber, Künstler, Aufnahme und Erstveröffentlichung auf einem Album beziehungsweise als Single in Großbritannien und den USA. McCartneys Musikverlag MPL hat das Buchprojekt von Anfang an unterstützt, mit ausführlichen Recherchen und mit einer riesigen Auswahl von über 600 Fotos und Memorabilia aus den Archiven, die über eine Million Gegenstände aufbewahren. Viele Erinnerungsstücke sind dabei McCartneys erster Ehefrau Linda zu verdanken, die Manuskripte und Notizen vor dem Papierkorb gerettet hatte. Neben den Fotos der Fab Four zeigen private Schnappschüsse, wie unglamourös es bei den McCartneys daheim zuging: Linda beim Kartoffelkochen, Paul beim Streichen des Hausdaches oder in Schottland bei der Heuernte. Rund die Hälfte der Fundstücke wird hier zum ersten Mal gezeigt. Dabei kam sogar ein noch unveröffentlichter Beatles-Song zum Vorschein: „Tell Me Who He Is“.

Weihnachten 2021 könnte also „Lyrics“-Geschenkzeit sein. Mit 78 Euro ist das „opus magnum“ zwar nicht gerade preiswert, aber die Neuerscheinung ist selbst ein kleines Kunstwerk: zwei liebevoll gestaltete Bände voller Lyrik, persönlicher Geschichten und seltenen Archivmaterials, die in einem hochwertigen Leinenschuber stecken. Mit knapp fünf Kilogramm allerdings keine Bettlektüre. Dabei ist das Songkompendium keineswegs komplett, denn McCartney hat mehr als 500 Songs in seiner Karriere geschrieben. So war er froh, dass ihm Muldoon bei der Auswahl und der Zusammenstellung behilflich war.

Paul McCartney: Lyrics – 1956 bis heute. Herausgegeben von Paul Muldoon, übersetzt von Conny Lösch, Verlag C.H. Beck, München 2021, 874 Seiten, 78,00 Euro.