Seine Bücher gehörten zu meiner Jugend: das Pariser Journal vor allem, 1966 erschienen, die Pariser Gespräche von 1967 und die Pariser Geschichten von 1972. Später kamen dann die anderen Paris-Bücher dazu: Dichter und Bohemiens, Paris geheim, Pariser Esprit und Ein Traum von Paris. Mein frankophiler Vater, der drei Jahrzehnte lang jedes Jahr Paris besuchte, hat mir diese für einen Jugendlichen ungewöhnliche Lektüre vermittelt, und ganz aus den Augen ist mir Troller auch später nicht gekommen, als sich die Schwerpunkte meiner Interessen veränderten. Was mich fasziniert und – ja – auch für den Rest meines Lebens geprägt hat, war das Gespür für die französische Metropole und ihre Menschen, für Menschen und Orte überhaupt, war die Suche nach dem Charakteristischen und Individuellen, war die liebevolle und doch nüchterne Menschlichkeit, die Trollers Interviews ausmacht. Was ich lange nicht wusste, weil es bei uns keine Rolle spielte – genauso wenig wie bei Heine und Stefan Zweig, Werfel und Hugo von Hofmannsthal – war, dass Troller Jude ist. Er selbst hat das auch lange nicht thematisiert, erst in der Trilogie Wohin und zurück von 1981 bis 1986 und 1988 in seiner Selbstbeschreibung.
Troller, Sohn eines Geschäftsmannes, wird am 10. Dezember 1921 in Wien geboren und führt zunächst das Leben eines Kindes und Jugendlichen aus gutbürgerlicher Familie. Dann kommen die Nazis – und damit kommt das Ende der Schulzeit. Gerade noch rechtzeitig gelingt die Flucht über die grüne Grenze in die Tschechoslowakei, danach geht es mit einem falschen Visum für Uruguay nach Frankreich. In Marseille bekommt er mit viel Glück ein Visum nach Amerika, wird 1943 Soldat, muss aber aufgrund einer allzu vorwitzigen Bemerkung im Ausbildungslager bleiben – das rettet ihm das Leben, denn seine Einheit wird in Nordafrika aufgerieben. Nach Kriegsende wird der GI zur Vernehmung deutscher Kriegsgefangener eingesetzt, spürt, wie Selbstmitleid und Larmoyanz um sich greifen, kehrt in die USA zurück, studiert Anglistik und Theaterwissenschaft, versucht wieder in Wien Fuß zu fassen. Doch, so resümiert er, die „Rückkehr in den Mutterschoß, in die Kindheit, in die mir gestohlene Jugend, weil ich mit 17 auf einmal erwachsen werden musste, dieser Versuch konnte nicht gelingen“. Seit 1949 lebt Troller in Paris; aus zwei Ehen hat er zwei Töchter, auf dem Cimetière de Montmartre, wo seit 2018 seine zweite Frau liegt, in der Nähe Heines, will auch er begraben werden.
Bekannt geworden ist Troller als Fernsehjournalist; gerade in der DDR wurden seine Sendungen gerne gesehen, vermittelten sie doch ein Gefühl von Weite und westlicher Welt. Trollers Pariser Journal lief in fünfzig Folgen von 1962 bis 1971, die Reihe Personenbeschreibung brachte es in den folgenden zwei Jahrzehnten auf 70 Folgen. Zwischen 1200 und 1500 Interviews hat Troller geführt, einfühlsam und kritisch, aber ohne Sensationsgier und immer ohne zu verletzen. Nach Einschaltquoten hat er nie geschielt – sie haben ihn nicht interessiert. Im Innersten ist er wohl menschenscheu, der Beruf auch eine Art Selbsttherapie. Die Beschäftigung mit anderen Menschen hat Troller in einem Interview einmal als „Weg zur Lösung der eigenen Probleme“ bezeichnet: „Ich habe mich in das Leben von Hunderten von Menschen hinein gefühlt, Lebenshilfe geleistet; ich war viel zu sehr damit beschäftigt, als dass ich in der Lage gewesen wäre, mich mit meinen eigenen Problemchen zu befassen.“ Solches zu tun schenkt die Kraft zur Selbstrelativierung, aber es vermag zugleich viel mehr: Es vermag den Zuschauer zur Identifikation mit dem anderen – selbst wenn er ihm unsympathisch ist – zu führen und zu der Erkenntnis „Das bin ja ich!“ Trollers Kunst, Menschen zu verstehen, hat etwas Therapeutisches, ja Seelsorgerliches – und seine Bücher beschreiben wie die George Simenons ohne Moralisieren und ohne Pathos die condition humaine. Es geht um Schuld, es geht um Fremdheit, es geht um Frauen und die Liebe, es geht um Erfahrungen und das, was man vom Leben erwarten kann. Vor einigen Wochen hat Troller in einem Interview mit dem SPIEGEL gesagt, er habe keine Lebensrezepte, sondern nur auf seine Art versucht zurechtzukommen. Das ist Trollers Humanismus: die Bescheidenheit, auf Ideologien zu verzichten, der nüchterne Realismus, sich auf die Realitäten des Lebens einzustellen, die Freude am Leben im Rahmen des Möglichen, und – trotz aller scheinbar widersprechenden Erfahrungen – der Glaube an den Menschen: „Ich bin natürlich ein Skeptiker geworden, manchmal auch ein Zyniker. Aber ich glaube an das Gute im Menschen, an das Göttliche im Menschen und an das Göttliche in der Natur.“
Das Pariser Journal, das ich Ende der 1960er Jahre gelesen habe – ein Nebenprodukt der Fernsehinterviews – vereint Züge eines Reiseführers mit denen eines Erfahrungsbuches, das unmittelbar anspricht. Mitten in einem Interview mit dem großen Theaterreformer, Schauspieler und Regisseur Edward Gordon Craig fragt Trollers Gegenüber: „Sehen Sie, ich war jeden Tag meines Lebens glücklich, jeden einzelnen Tag. Und Sie?“ Troller lässt vor Schreck fast das Mikrofon fallen. „Was soll man auf solch eine Frage antworten?!“ Diese Frage verfolgt einen lebenslang.
Lieber – darf ich das schreiben? – Georg Stefan Troller, Sie sind mir, ohne mich zu kennen und ohne es zu wissen, in Ihren Büchern Lehrer und Freund geworden. Zu Ihrem Hundertsten am 10. Dezember brauchen Sie keine Glückwünsche eines völlig Fremden. Aber eines darf ich Ihnen aus der Ferne sagen: einen ganz, ganz großen Dank!
Schlagwörter: Georg Stefan Troller, Hermann-Peter Eberlein, Paris