25. Jahrgang | Nummer 1 | 3. Januar 2022

Ein Ungar besichtigt die ostthüringer Provinz

von Ulrich Kaufmann

Der 1954 in Ungarn geborene László Krasznahorkai, vielfach preisgekrönter Autor, „einer der innovativsten Schriftsteller Europas“ (Klappentext) hat einen in vieler Hinsicht besonderen, verstörenden Erzähltext geschrieben. In nur einem Satz, der sich über 410 Seiten erstreckt, schildert der Autor satirisch und beklemmend Zustände in der thüringischen Kleinstadt Kana. Man muss kein geografisches Ass sein, um bald Kahla zu erkennen: Das Porzellanwerk und die Leuchtenburg werden erwähnt, die Fahrten in die nahegelegene Großstadt Jena (die mit Klarnamen erscheint) spielen eine wichtige. Schon der Titel „Herscht 07769“ sendet dem Leser ein erstes Signal: Kahla hat die Postleitzahl 07768.

Florian Herscht, der Protagonist, ist ein „spinnertes Waisenkind“ und zugleich ein Hühne. Der etwas einfach Gestrickte will mit allen im Städtchen gut zurechtkommen. Wegen seiner Bescheidenheit, vor allem wegen seiner Hilfsbereitschaft wird er allseits geschätzt. Der namenlose „Boss“ besorgt ihm eine unterbezahlte Arbeit und eine bescheidene Wohnung. Durch den Boss gerät er in die „Einheit“. Fast täglich schlägt der Vorgesetzte seinen Knecht, im Auto wird Florian stets gezwungen, zu Beginn des Tages die Nationalhymne anzustimmen. Nicht im Geringsten begreift der Held, dass er unter die Kanaer Nazis geraten war.

Einen Gegenpol zu dem Boss bildet der Lehrer Adrian Köhler, der Florian viele naturwissenschaftliche Anregungen, gibt, die seinen Schützling und gleichermaßen den Leser verstören und verwirren. Alles, was Herscht beunruhigt, glaubt er (bereits im in der ersten Sentenz des Buches) wiederholt der Physikerin und Politikerin Dr. Angelika Merkel brieflich mitteilen zu müssen. Obwohl die verehrte Kanzlerin niemals auf seine Briefe – die im Absender die PLZ 07769 aufweisen – antwortet, lädt er sie nach Kana ein. Mit einem Plakat wartet er vergebens auf dem abgestorbenen Bahnhof auf sie. Auch in Berlin glückt keine persönliche Begegnung.

In seiner Infantilität hinterfragt Herscht niemals den Sinn seiner Arbeit: In aller Frühe rückt er mit dem Boss, der in Kana um ein positives Image bemüht ist, aus. In Thüringer Städten beseitigt Herscht nächtliche Schmierereien. Auffallend sind oft beide an Bach-Orten tätig. Den großen Musiker schätzt der Boss – vor allem als großen Thüringer, als großen Deutschen. (Später wird klar, dass die Nazis selbst die Schmierfinken waren.)

Den Leser könnte zusätzlich verunsichern, dass der Autor seine Erzählung gar einen „Bach-Roman“ nennt. Die „Kanaer Symphoniker“ versuchen lange und vergeblich – großzügig unterstützt vom Boss – ein Bach-Konzert zur Aufführung zu bringen. Am Ende gelingen wenigstens einige Schunkellieder. Florian, der von Musik und Bach nicht das Geringste versteht, nimmt an jeder Probe des Orchesters teil, später gar aus eigenem Antrieb. Da der Boss ständig von Johann Sebastian Bach spricht, beginnt auch Herscht, sich dieses Komponisten anzunehmen. Bis zum bitteren Ende seines Lebens / des Textes hört Florian Musik, immer ist es die von Bach.

Nach den hier angedeuteten satirisch-grotesken Partien schlägt der Erzählton um. Herscht muss erfahren, dass seine „Kameraden“ aus der „Einheit“ Mörder und Terroristen sind: Eine ARAL-Tankstelle – die von Zugereisten geführt wurde, mit denen Florian befreundet war – wird abgefackelt. Herscht taucht unter, lebt wie ein Tier, kommt als ein Anderer zurück. Sein Weltbild ist zertrümmert. Die fragwürdigen Konsequenzen, die Herscht daraus zieht, soll der Leser selbst erfahren und bewerten.

Auch formal handelt es sich hier um einen besonderen Erzähltext. Die 13 Kapitelüberschriften werden nahtlos in den Langsatz eingefügt. Was mitunter wie eine vermeidbare Wiederholung wirkt, ist immerfort ein Wechsel in der Erzählperspektive. Die Sprache der Nazis zeichnet sich dadurch aus, das in ihren Worten ganze Silben verschluckt werden, die der Leser ergänzen kann: „Sch(…) schwuchteln“, „v(…) dammt“ und so weiter. Auch dieses Stilmittel dürfte für die preisgekrönte Übersetzerin Heike Flemming nicht leicht zu übertragen gewesen zu sein. Die Prosa des ungarischen Autors könnte man sich gut in einem Hörbuch vorstellen.

Der ungarische Erzähler hat ein verstörendes, eindringliches und hochartifizielles Buch geschrieben. Leichte Kost ist dieser unterhaltsame und bedrückende Text nicht. Wenn man sich erinnert, dass der NSU (der hier nicht eigens genannt wird) in Ostthüringen seine Anfänge hatte, erübrigt sich die Suche nach der Aktualität von selbst.

Ingo Schulze hat in Krasznahorkais Buch „den deutschen Roman“ entdeckt. „Du lachst und du staunst und du zitterst“, notiert sein Kollege Clemens Meyer.

László Krasznahorkai: Herscht 07769 – Florian Herschts Bach-Roman. Erzählung. Aus dem Ungarischen von Heike Flemming, S. Fischer, Frankfurt a. M 2021, 416 Seiten, 26,00 Euro.