25. Jahrgang | Nummer 1 | 3. Januar 2022

Der Fall Collini

von Frank-Rainer Schurich

Alles, was die Menschheit je getan, gedacht oder erreicht hat, und alles, was sie je gewesen ist, findet sich wundersam bewahrt auf den Seiten von Büchern“, lesen wir beim schottischen Essayisten und Historiker Thomas Carlyle (1795–1881). Wundersam? Er meinte zweifellos „wie durch ein Wunder überliefert“ und damit solche Sach-Aufzeichnungen, die sich auf seriöse Quellen und Dokumente beziehen.

Das lässt sich von den meisten heutigen Büchern nicht sagen, die sich nichtssagend auf Bestsellerlisten tummeln, und ein Roman, um den es hier geht, ist natürlich ebenso ausgedacht wie fiktiv. Aber das Buch von Ferdinand von Schirach über den brisanten Kriminalfall Collini stellt eine große Ausnahme dar. Schon zehn Jahre auf dem Buchmarkt und bereits verfilmt, scheint es aktueller denn je und führt uns mit einem exzellenten Quellenteil ein erschreckendes Kapitel bundesdeutscher Justizgeschichte vor Augen.

Die Handlung: Vierunddreißig Jahre hatte der Italiener Fabrizio Collini als Werkzeugmacher fleißig und unbescholten bei Mercedes-Benz gearbeitet. Und dann ermordet er im Berliner Luxushotel Adlon den 85 Jahre alten angesehenen deutschen Industriellen und Inhaber der Meyer-Werke, Jean-Baptiste „Hans“ Meyer, auf brutale Art und anscheinend völlig motivlos. Unmittelbar nach der Tat stellt sich Collini der Polizei. Der junge Anwalt Caspar Leinen wird als Pflichtverteidiger Collinis bestellt – sein erster großer Fall.

Collini gibt jedoch gegenüber Leinen keine Erklärungen ab, er gesteht die Tat, aber zu seinem Motiv schweigt er. Auch im Strafprozess. Als dieser wegen der Erkrankung einer Schöffin für zehn Tage unterbrochen wird, stößt der Rechtsanwalt auf eine Spur, die weit hinausgeht über den Fall Collini.

Der junge Hans Meyer leitete als SS-Sturmbannführer im faschistischen Italien eine Erschießung von Partisanen, bei der Collinis Vater ermordet worden war. Collini hatte nach der Verhaftung seines Vaters als Kind auch mit ansehen müssen, wie ein deutscher Soldat seine Schwester vergewaltigte und dann erschoss. Danach war der Hof des Vaters zusammen mit der Leiche der Schwester in Brand gesteckt worden. Das Motiv für den Mord an den Industriellen Meyer war nun offensichtlich: Rache. Collini hatte Meyer bereits in den 1960er Jahren angezeigt, das Verfahren war aber nach einem Jahr eingestellt worden, weil die Erschießung nach damaligem Kriegsvölkerrecht legal gewesen sei. Außerdem sei die Tat verjährt gewesen, durch ein Gesetz, das am 1. Oktober 1968 in Kraft trat.

Akribisch wird im Roman des Strafverteidigers Ferdinand von Schirach am Ende die ungeheure politische Dimension des Falles aufgezeigt. Denn alle Verbrechen aus der Zeit des Faschismus waren 1960 verjährt, nur Mordtaten nicht. Man wollte sie weiter verfolgen, aber dann kam es zur Katastrophe. Das herangezogene Gesetz hieß EGOWiG: Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz.

Verantwortlich dafür war ein Dr. Eduard Dreher, im Dritten Reich Erster Staatsanwalt am Sondergericht in Innsbruck. Nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands ließ sich Dreher als Rechtsanwalt nieder. Und dieser Dreher fädelte nun das Ungeheure ein. Nach der Rechtsprechung waren die höchsten Führer der Nazis Mörder, alle anderen Mordgehilfen. Sie galten nur als Befehlsempfänger. Und da das kleine Gesetz harmlos klang (EGOWiG), bemerkte keiner, was eigentlich vor sich ging und beabsichtigt war. Keiner sah, dass es Geschichte verändern würde. Nicht die elf Landesjustizverwaltungen, die Mitglieder des Bundestages (das Gesetz wurde im Parlament nicht diskutiert), der Bundesrat und die Rechtsausschüsse. Mordgehilfen konnten nur wie Totschläger und nicht wie Mörder bestraft werden. Heißt, dass diese Verbrechen plötzlich verjährt waren. „Drehers Gesetz war nichts anderes als Amnestie“, lässt der Autor eine Sachverständige von der „Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg sagen. „Eine kalte Amnestie für fast alle.“

Rechtsanwalt Leinen fragte nun die Sachverständige: „Aber wieso konnte man das Gesetz nicht einfach wieder zurücknehmen?“ – „Das ist ein Grundprinzip des Rechtsstaates. Wenn eine Straftat einmal verjährt ist, kann das nie wieder rückgängig gemacht werden.“ Hierzu ist freilich anzumerken, dass die Rücknahme des Gesetzes durchaus möglich gewesen war. Das wollte man aber auf höchster politischer Ebene nicht.

Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini. Roman, btb, München 2017, 195 Seiten, 10,00 Euro.