25. Jahrgang | Nummer 1 | 3. Januar 2022

Benito Wogatzki – anders und sich dennoch treu

von Gerd-Rüdiger Hoffmann

Lothar Baier (1942–2004), bis zu seinem Tod einer der bekanntesten deutschen Intellektuellen in Frankreich, ließ sich Anfang der 1980er Jahre in Südfrankreich nieder. Seine autobiographische Erzählung „Jahresfrist“ (1985) handelt von seinem Versuch, sich in Südfrankreich dauerhaft niederzulassen. Baier schrieb die Erzählung aus der Ich-Perspektive. Es ging um ihn und seinen Versuch, weitab von den Verwerfungen der deutschen kapitalistischen Zivilisation irgendwie zur Ruhe zu kommen, ein altes Haus außerhalb einer kleinen Siedlung mit eigenen laienhaften handwerklichen Fähigkeiten bewohnbar zu machen, um dort mit dem nötigen Abstand in Ruhe schreiben zu können. Es wurde ein eindrucksvoller Bericht seines Scheiterns.

Auch Benito Wogatzki (1932–2016), weil es sich so ergab, siedelte nach Südfrankreich über. Die Ruhe zum Schreiben, die er bisher in Siethen südlich von Berlin fand, wollte er, ähnlich wie Lothar Baier Anfang der 1980er Jahre, in einem kleinen provenzalischen Dorf finden. Mit diesem Ortswechsel, so die Hoffnung, entzog er sich nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten den Aufgeregtheiten und Gemeinheiten, die literarische Leistungen im Osten nicht nach ihrer Qualität, sondern nach dem Grad der Systemnähe der Autorinnen und Autoren bewertete.

In den 1960er Jahren war seine gewitzte sozialistische Märchenfigur Meister Falk in aller Munde. Der von Wolf Kaiser gespielte Meister Falk in der Fernsehserie „Die Geduld der Kühnen“, so weiß ich aus eigener Erfahrung, war Identifikationsfigur und Gesprächsstoff unter Arbeitern in ihren Pausen. Sie verbanden damit wohl die Hoffnung, dass es doch noch gelingen könnte, unbewegliche Planwirtschaft, Bürokratie und langweilige Propaganda mithilfe solcher Typen aus ihren eigenen Reihen zu überwinden. Wogatzki war populär. Seine Anhängerschaft störte offenbar nicht, dass ihm im DDR-Standardwerk „Kurze Geschichte der deutschen Literatur“ (1981) eine „unmittelbare Operativität“ bei der Gestaltung vielfältiger Probleme im Arbeitsleben des Sozialismus bescheinigt wurde, wodurch der „Wert mancher künstlerischen Aussage“ begrenzt wurde.

Wolf Kaiser beendete kurz nach der „Wende“ sein Leben aus Gram mit einem Sprung aus dem Fenster seiner Berliner Wohnung, Wogatzki arbeitete weiter. Von einem Scheitern oder einer Schaffenskrise kann nicht die Rede sein. Er arbeitete unter Pseudonym an Drehbüchern fürs Fernsehen und schrieb in Frankreich zwei Romane, „Flieh mit dem Löwen“ (2007) und „Fleur“ (2014). Geplant hatte Wogatzki eine Serie von Kriminalgeschichten unter dem Titel „Gendarmes couchés“. Nur die erste wurde fertig und erschien postum bei Faber & Faber unter dem Titel „Unter der Sonne von Saint-Tropez. Eine französische Novelle“. Mit gendarmes couchés werden Wellen auf der Straße bezeichnet, die ein langsameres Fahren erreichen sollen. Die Metapher hat Witz ganz im Stil des alten Wogatzki. Der Gendarm, eigentlich zuständig für ordentliches Fahren, kann sich hinlegen und zuschauen.

Auch Lothar Baier beobachte einige Besonderheiten der lokalen Polizei in den Dörfern des Südens. Vom Sohn des Cafébesitzers erfährt der Ich-Erzähler, also Baier, folgendes: „Von den Gendarmen brauchst du übrigens keine Angst zu haben. Falls sie dich mal besuchen, dann eher aus Langeweile als mit bestimmten Absichten. Sie sind zufrieden, wenn du ihnen deine Arbeit zeigst und ihnen etwas zu trinken anbietest.“ Um so einen Gendarmen geht es auch in Wogatzkis Kriminalnovelle. Jérôme Laskar, der Dorfpolizist, dem vom Bürgermeister nicht einmal das Tragen einer Waffe erlaubt wird, gilt nicht als besonders eifrig. Er gehört jedoch fest zur Dorfgemeinschaft, in der kaum etwas passiert, wofür sich die Polizei interessieren müsste. Höhepunkt der Arbeit von Laskar ist das Lenken des Verkehrs zu besonderen Anlässen. Seine Aufgabe ist es ebenfalls, zum Tag der Befreiung die schwere Dorfstandarte während der Rede des Bürgermeisters und beim Abspielen der Marseillaise würdevoll zu halten.

Und dann passiert doch noch etwas in Ardinoschou, in dem Dorf, in das kam, „wer im großen Frankreich gescheitert, zum Weiterleben jedoch entschlossen war. Die Weltgeschichte kam hier nicht hin …“. Der Dorfpolizist – „Nun ja, im Büro des Bürgermeisters war ein kleiner Schluck genommen worden“ – kommt samt Standarte ins Schwanken und „sieht den Himmel schwinden …“. Das Urteil des Bürgermeisters lautet: „Wenn du es nicht selber tust, werde ich deine Entlassung beantragen. Ich gebe dir zwei Wochen.“ Zum Glück für den Gendarmen beginnt wenige Tage später das große Boule-Turnier, das „Murmelwerfen der erwachsenen Bevölkerung“ mit strengen Regeln und lebhaftem Treiben im Dorf, das ohne einen Ordner wie Laskar kaum denkbar ist. Ein Unglück für das Turnier sollte sich als weiteres Glück für den Polizeimann erweisen. Nachts verschwinden Boulekugeln. Wer, wenn nicht Jérôme Laskar, sollte in diesem Kriminalfall ermitteln?

Die Aufklärung des Falles und damit das Ende der Geschichte ist völlig überraschend. Niemand kommt wohl drauf, obwohl am Anfang der Novelle der Täter mal kurz durch die Handlung huscht. Die Auflösung ist so, jedenfalls auf den ersten – Versöhnung erheischenden – Blick, dass die Dorfidylle wieder hergestellt ist und vorrübergehende Verdächtigungen der Vergangenheit angehören.

Wie Wogatzki bis zu diesem lustigen, vielleicht sogar als albern zu bezeichnenden, Schluss Leserinnen und Leser teilhaben lässt am Geschehen in der Dorfgemeinschaft, das ist meisterlich erzählt. Keine abgehobene Distanz zu den Leuten, sondern große Empathie und erkennbare Freude des Erzählers dazuzugehören. Es zeigt sich, dass, wenn man glaubt, es passiert nichts, doch sehr viel passiert. Selbstverständlich denkt man beim Lesen an die Saint-Tropez-Filme mit Louis de Funès aus den 1960er Jahren. Das hat auch damit zu tun, dass mit dieser Novelle noch immer der Fernsehautor Wogatzki zu erkennen ist. Wer Südfrankreich ein klein wenig außerhalb der Touristenrouten kennengelernt hat, hat keine Schwierigkeiten, sich Landschaft und bewegte Bilder beim Lesen vorzustellen.

Der hintergründige Humor, Mitfühlen sowie nur sehr sparsam gesetzte Schnoddrigkeit tragen ebenfalls zum Lesevergnügen bei. Sicher, das Erstarken der extremen Rechten beziehungsweise die große Weltpolitik kommen nicht vor. Politische Veränderungen oder ein anderer Bürgermeister stören nicht wirklich die Dorfordnung. Jedenfalls scheint es so. Geübte Leserinnen und Leser merken jedoch wohl, wenn im idyllischen bodenständigen Zusammenleben Böses und Politisches aufblitzen. „Es gehört sich nicht, Einwohner festzulegen auf bestimmte Äußerungen.“ Eindrücke müssen erlaubt sein. Als Laskar den Dachdecker verdächtigt, die Boulekugeln gestohlen zu haben, kontert der mit dem festen Glauben, dass die hier Geborenen sich vertrauen können: „Bist du noch bei Verstand, camarade?“ Und Saint-Tropez? Kommt außer im Titel und in einem fast philosophischem Satz des aus Deutschland, nun ja, geflüchteten Benito Wogatzki nicht vor: „Es scheint hier dieselbe Sonne wie in Saint-Tropez!“

Schließlich erweist sich der lustige Schluss doch nicht als albern. Denn, was Verdächtigungen in einer auf Harmonie, geordneten Liebesbeziehungen und Lösung von Meinungsverschiedenheiten ohne Protokolle und Akten angelegten Gemeinschaft anrichten können, ist dann doch nicht nur lustig. Ein wirkliches Lesevergnügen zum Schmunzeln und Nachdenken!

Benito Wogatzki: Unter der Sonne von Saint-Tropez. Eine französische Novelle, Faber & Faber, Leipzig 2021, 107 Seiten, 20,00 Euro.