25. Jahrgang | Nummer 1 | 3. Januar 2022

Antifaschismus vor und nach der Befreiung

von Mario Keßler

Der Historiker Gerd-Rainer Horn, Professor am Pariser Institut d’études politiques, allgemein bekannt als Sciences Po, hat seinen zahlreichen Publikationen in deutscher, englischer und französischer Sprache zur Arbeiter- und Gewerkschaftsgeschichte ein neues Werk hinzugefügt. „The Moment of Liberation in Western Europe: Power Struggles and Rebellions, 1943–1948“ behandelt das Streben nach politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die aus dem antifaschistischen Befreiungskampf in Frankreich und Italien hervorgingen.

Neu und in dieser Breite noch nicht behandelt ist die Untersuchung von Basisnetzwerken, die antifaschistische Partisanen und Widerstandskämpfer im Übergang vom Befreiungskampf zum Kampf um die politische Macht zu knüpfen suchten – und die ungeachtet ihres Scheiterns wichtige geschichtliche Lehren vermitteln. Diese Lehren sind umso wichtiger, als Gerd-Rainer Horn sein Thema in vergleichender Sicht behandelt. Er untersucht wichtige Entwicklungen in Deutschland, Italien und Frankreich mit einem Seitenblick auf Belgien.

Dabei stehen drei Regionen im Mittelpunkt, in denen antifaschistische Aktionsausschüsse tatsächlich eine, wenn auch zeitlich und örtlich begrenzte Exekutivgewalt ausübten: das Gebiet Schwarzenberg im deutschen Teil des Erzgebirges, die französische Region südlich der Loire und westlich der Rhone, die „République Rhone-Alpes“, sowie das Gebiet um die Stadt Carrara in der italienischen Provinz Toskana.

Nach Kriegsende blieb im Mai 1945 ein Gebiet um den Schwarzwasser-Fluss im westlichen Erzgebirge aus unbekannten Gründen zunächst unbesetzt. Somit bildeten antifaschistische Gruppen in den dortigen Städten und Dörfern lokale Selbstverwaltungen, bis schließlich am 24. Juni 1945 sowjetische Truppen einrückten. Sie und die westlichen Alliierten hatten anfangs das Gebiet möglicherweise übersehen.

Horn zeigt, dass die Antifa-Komitees, entgegen späterer Legenden, keine eigenständige Republik Schwarzenberg bilden wollten oder konnten, doch weist er nach, dass sie zum eigenständigen politisch-administrativen Handeln fähig waren. Die Hauptaufgaben der Antifa-Komitees waren: Die Plünderung von Vorratslagern zu unterbinden, Nahrungsmittel und Brennmaterialien zu beschaffen sowie NSDAP-Mitglieder aus der Verwaltung zu entfernen und zu verhindern, dass Nazis untertauchen und Werwolf-Einheiten bildeten.

Doch entgegen manch heutiger antikommunistisch-antisozialistischer Deutung zeigt Horn auch, dass es den Ausschuss-Mitgliedern keineswegs darum ging, die nächste, diesmal kommunistische Diktatur in Deutschland vorzubereiten. In Ost und West wurde dennoch die antifaschistische Selbstorganisation der Arbeiter-Komitees mit großem Argwohn beobachtet. Alle Besatzungsmächte unterbanden solche Bestrebungen sehr bald. Dies war besonders rigoros und zum Teil brutal im Gebiet Schwarzenberg der Fall. Dort wurden elf, teilweise unbeteiligte Jugendliche wegen angeblich eigenmächtigen Handelns gegen die sowjetische Besatzungsmacht verhaftet und nach Sibirien deportiert. Nur sechs von ihnen überlebten.

Nicht weniger eindrucksvoll ist Horns Schilderung der Selbstbefreiung der Region Rhone-Alpes durch die Forces Francaises de l’Intérieur, die FFI. Diese bildeten die militärische Widerstandsstruktur, die durch eine zivile Widerstandsstruktur ergänzt wurde: die Comités Départmentaux de la Libération, die CDL. Am Erfolgreichsten agierten sie in der Region um Lyon. Doch suchte die Provisorische Regierung des Freien Frankreich die Anstrengungen der kommunistisch dominierten FFI zu unterbinden, sich im Raum Lyon als eigenständige Kraft zu konstituieren. Dabei zeigt Horn die Anpassung der Französischen Kommunistischen Partei an ihre bürgerlichen Bündnispartner, die mit Kriegsende ihre Widersacher wurden. Diese Anpassung entsprang nicht zuletzt der sowjetischen Linie, wonach die jeweils herrschende Besatzungsmacht die politische und soziale Ordnung im besetzten Gebiet bestimmte. Frankreich aber war ein Teil Europas, auf den die Sowjetunion keine Ansprüche stellen konnte. So verliefen die Anstrengungen der FFI alsbald ins Leere.

In Italien entstand im September 1943 – noch inmitten der faschistischen Herrschaft – in der Provinz Masssa-Carrara das Comitato di Liberazione Nazionale, das Nationale Befreiungskomitee (CPLN). Im folgenden Monat stabilisierte es sich in Form eines Provinzkomitees. Bis in den September 1944 war das Gebiet um Carrara umkämpft und der Schauplatz einer Serie von Massakern der SS und ihrer italienischen Helfer. Im Juli 1944 verhinderte der legendäre Aufstand der Frauen von Carrara die geplante Evakuierung des Ortes und ermöglichte ein Durchhalten des Widerstandes bis zur endgültigen Befreiung im April 1945. Neben Kommunisten wirkten im CPLN auch viele Anarchisten, da Carrara ein traditionelles Zentrum des italienischen Anarchismus war. Das CPLN koordinierte die Aktionen der Partisaneneinheiten, versuchte, mit den Alliierten in Kontakt zu treten, und bemühte sich um Mittel zur Beschaffung des Lebensunterhaltes. Massa-Carrara war ein außergewöhnliches Beispiel einer Art von Selbstverwaltung im unbesetzten Gebiet zwischen den Fronten. Horn betont jedoch, dass die Dynamik der Befreiungskomitees nicht nur dort, sondern überall in Italien von Florenz in Richtung Norden bis zu den Alpen wirksam war. Fast ganz Norditalien, darunter die größten italienischen Industriestädte Turin, Genua und Mailand, aber auch viele mittelgroße Städte wurden allein von den im Widerstand gebildeten Befreiungskomitees und den aus ihnen entstandenen militärischen Einheiten befreit.

Schließlich aber suchten die Kommunisten wiederum spontane Aktionen, nicht zuletzt solche der zahlreichen Bauernkomitees im Raum Carrara, zu unterbinden und in legale Bahnen zu lenken. Dies stieß jedoch parteiintern auf scharfe Kritik. Es war schließlich der Parteiführer Palmiro Togliatti, der am 8. August 1945 im Parteiorgan Unità schrieb, es gelte, die Arbeiterkontroll-Maßnahmen auf den in einer kapitalistischen Gesellschaft möglichen Rahmen zu beschränken. Diese Linie ermöglichte der kommunistischen Partei die Anerkennung durch die übrigen antifaschistischen Parteien als Teil des demokratischen Spektrums, das über die Beibehaltung der Monarchie oder die Einführung der Republik entschied. Sie ging jedoch einher mit der Entwaffnung der von Kommunisten dominierten Resistenza-Einheiten. Die Partei rückte nach „rechts“; so verzichtete sie auf größere Verstaatlichungen in der Industrie und erkannte eine starke Rolle der Kirche an.

Eine größere Bekanntheit erfuhren die Ereignisse im Gebiet Schwarzenberg durch Stefan Heyms „Schwarzenberg“-Roman, der zunächst 1984 nur in der Bundesrepublik und erst 1990 in der DDR erscheinen konnte. Die Figuren in Heyms Roman sind frei erfunden, die Handlung entspricht aber weitgehend den Tatsachen. Heyms Betonung der Basisdemokratie gab den Bürgern der DDR ein Hinweis, für ihre Rechte einzustehen. Zwanzig Jahre nach Stefan Heyms Tod ist es wichtig, daran zu erinnern, verkörperte er doch in seinem Leben und Werk jenen Moment der Befreiung, von dem dieses wichtige, leider sehr teure Buch handelt.

Gerd-Reiner Horn: The Moment of Liberation in Western Europe: Power Struggles and Rebellions 1943–1948, Oxford University Press, Oxford und New York 2020, 288 Seiten, 65,00 Euro.