24. Jahrgang | Nummer 24 | 22. November 2021

Wahlalter ab 16

von Stephan Wohanka

„Verherrlichung der Gegenwart und der Vernachlässigung der Zukunft
wohne jeder Demokratie inne.“

(Richard von Weizsäcker)

Die Bundestagswahl ist vorbei mit dem bekannten Ergebnis. Daher erscheint es müßig, im Nachhinein über eine Absenkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre zu debattieren – es scheint so!

Kürzlich saß ich in einer Runde betagter Menschen; ich war mit 78 Jahren der Jüngste. Ohne hier die besprochenen Inhalte, die sich häufig durch eklatante Unkenntnis der Lage, politisches Analphabetentum und Invektiven gegen Personen der Zeitgeschichte auszeichneten, näher zu schildern, kann ich als Quintessenz aus den Gesprächen nur feststellen: Ich bin deutlich bestärkt worden in meiner schon vor langem gefassten Meinung, dass Wahlalter auf 16 Jahre zu senken.

Durch die Alterung unserer Gesellschaft hat sich die Wählerschaft hierzulande deutlich verändert. Es gibt heute rund 21 Millionen Wahlberechtigte über 60 Jahre; jedoch lediglich etwa 9 Millionen unter 30. Dieses Zahlenverhältnis als „Schieflage“ zu bezeichnen, ist ein freundlicher Euphemismus, denn mit ihrer „Wahlübermacht“ bestimmen indirekt die Älteren über die Jüngeren. Der „Wählerwillen“ altert mit. Namentlich die zu Ende gehende „Ära Merkel“ hat dies eindrücklich demonstriert. Die von Merkel geführten Koalitionen waren in ihrem Opportunismus stets bereit, die „Treue“ der älteren Wähler zu honorieren respektive diese mit Wahlversprechen zu ködern. Ein Schwerpunkt des Regierungshandelns lag so in der Sicherstellung eines stetigen Aufwuchses der Rentenleistungen. Dazu gehören die Rente ab 63, die Mütterrente, die sogenannte Haltelinie (mit der verhindert werden soll, dass die Renten bei 45 Beitragsjahren unter 48 Prozent des letzten Nettolohns sinken) sowie zuletzt die Grundrente.

All dies waren (und sind zukünftig) Leistungen für eine wachsende Zahl von Rentnern, die von einer sinkenden Zahl an Beitragszahlern finanziert werden müssen. Da die Beiträge nicht reichen, sind wachsende Zuschüsse aus dem allgemeinen Steueraufkommen erforderlich. Schon heute fließt ein gutes Viertel des Bundeshaushalts in die Rentenfinanzierung; momentan um die 100 Milliarden Euro. Andere Ausgaben, beispielsweise für öffentliche Investitionen, gerieten dadurch ins Hintertreffen. Hätten 16jährige mitwählen dürfen, dann spielten kaputte Schultoiletten oder der Lehrermangel schon lange eine politische Rolle. Und so gibt es eben Renten-Milliarden für die Babyboomer, und gab es Haushaltsvorbehalte für Bildung und Breitband-Internet.

Wenn es einen Bereich gibt, in dem die Politik in der Ära Merkel besonders eklatant versagte, dann ist das die Energie- und Klimapolitik. Deutschland hat mehr Geld als die meisten Industrieländer für die Förderung erneuerbarer Energien ausgegeben und doch wenig erreicht. Die Klimaziele für 2020 wurden verfehlt. Erst die Klimastreiks von Fridays for Future und wachsende Wahlerfolge der Grünen haben dazu geführt, dass die Bundesregierung ihre Klimapolitik überdachte; zusätzlich dazu genötigt vom Bundesverfassungsgericht. Vorher wurde die „Gerechtigkeit zwischen den Generationen“ vor allem im Sparen als dem „beste[n] Beitrag […], den wir für die Jungen, die Kinder und Enkel leisten können“, gesucht; eine Fehlleistung Merkelscher Politik sondergleichen.

Der Weg in die Hölle ist bekanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert. Ab 2014 sollten Bundesgesetze zukünftig 24 Kriterien standhalten. So unter anderem einem Demografie-Check, mit dem die Regierung ihre Politik auf Nebenwirkungen abklopfen wollte: „Führt das Vorhaben zu finanziellen Belastungen (Steuer- oder Abgabenerhöhungen, Erhöhungen der Sozialversicherungsbeiträge) für künftige Generationen?“, lautet etwa Prüfstein Nummer Sechs. Jedoch: Das damalige Rentenpaket musste den Check nicht bestehen, weil der erst eingeführt wurde, nachdem die Rentenaufschläge bereits beschlossene Sache waren. Es gab auch noch einen Jugend-Check, ebenfalls damals im Koalitionsvertrag festgeschrieben; und eine neue Generationen-Bilanz. Wirkungen, siehe oben, gleich Null. Checks hin oder her: Nur wer wählte, zählte.

Es ist also klar, dass die demografische Entwicklung seit geraumer Zeit Entscheidungen – auch fundamentaler Natur – über die Zukunft unserer Gesellschaft auf (Ein)Sichten älterer Menschen verlagerte. Ein Ende dieses Trends ist nicht abzusehen; im Gegenteil. Logisch erscheint, dass Anstöße zur notwendigen, ja überlebensnotwendigen politischen Gestaltung sozialer, ökologischer, ökonomischer und kultureller Veränderungsprozesse eher von denen zu erwarten sind, die unter diesen (neuen) Bedingungen den größten Teil ihres Lebens werden verbringen müssen – den Jungen. Dafür müssen sie möglichst umfassend wählen dürfen.

Gegen das Wahlalter mit 16 wird eingewandt, dass 16jährige politisch unreif seien. Auch wenn sie heute einen höheren Bildungsstand hätten als früher, seien sie noch nicht fähig, sich ein vernünftiges Urteil zu einer Welt zu bilden, die immer komplizierter werde und sie so „für eine so verantwortungsvolle Entscheidung wie eine Bundestagswahl“ noch nicht „das richtige Alter erreicht“ hätten, wie eine stellvertretende Vorsitzende der Jungen Union (!) argumentierte. Rekurriere ich auf den obigen Befund über das mangelnde Weltverständnis mancher Alter, drängt sich eine Gegenfrage regelrecht auf: Könnten diese Alten in dem einen oder anderen Falle „das richtige Alter“ für „eine so verantwortungsvolle Entscheidung wie eine Bundestagswahl“ nicht schon überschritten haben? Nein, natürlich nicht! Es kann und darf keine Begrenzung des Wahlalters „nach oben“ geben. Um auch das zu sagen – natürlich gäbe es unter 16jährigen Wählern desgleichen solche, denen man einen politischen „Durchblick“ nicht zubilligen könnte.

Die Verweigerung des Wahlalters mit 16 ist flankiert von einigem Zutrauen in ebendiese Jugendlichen: Es beginnt mit 12 Jahren; ab dann dürfen Kinder nicht mehr zu einem bestimmten religiösen Bekenntnis gezwungen werden. Mit 14 dürfen sie über ihre Religion allein bestimmen. Mit 16 fallen pikanterweise das Recht, Alkohol zu trinken und Mitglied einer politischen Partei zu werden, zusammen. Mit 17 darf man – begleitet – Auto fahren.

Cum grano salis kann man auch das Wahlergebnis der letzten Bundestagswahl heranziehen. Es zeigt eines bei den Erst- und Jungwählern: Die politische Ungeduld und der Drang nach Abkehr von bisheriger Politik manifestierten sich deutlich! Die Genannten trauen vor allem der FDP und den BündnisGrünen zu, sich der Themen Klima und Digitalisierung anzunehmen. Stärkste Kraft bei den unter 25-Jährigen sind die Grünen mit einem Stimmenanteil von 23 Prozent, knapp vor der FDP mit 21 Prozent; bei den Erstwähler:innen liegen FDP und Grüne mit 23 Prozent gleichauf. Währenddessen konnten Union und SPD naturgemäß besonders bei den Babyboomern und den über 60-Jährigen gewinnen.

Insgesamt zeigt dieses Wahlergebnis klar den Widerspruch zwischen dem Festhalten am Althergebrachten auf der einen und der Forderung, ebendiese alten Zöpfe abzuschneiden auf der anderen Seite. „Weiter so“ lautet der Regierungsauftrag der Älteren, der Ruf nach grundlegenden Veränderungen folgt aus dem deutlichen Votum der Jung- und Erstwähler. Als bisher greifbares Ergebnis konnte zumindest so die „ewige“ Große Koalition aus dem Amt vertrieben werden. Und inwieweit die Jungen ihren Themen und ihrem Politikverständnis gegen das „Weiter-so“ zum Durchbruch verhelfen können, bleibt abzuwarten. Eine weitere Stärkung der auf Transformation drängenden Wählerpotentiale wäre angesichts der prekären sozialen und ökologischen Lage des Landes jedenfalls zwingend; und die heute schon 16jährigen bildeten dieses Potential. Die Radikalität dieser Jungen – wie sie sich beispielsweise bei Fridays for Future-Demonstrationen äußert – stärkte den Wandel, wäre jedoch über die zu wählenden Parteien soweit temperiert, um erfolgreich in den Politikbetrieb eingespeist zu werden.

Um pathetisch zu enden: Der Glanz der demokratischen Macht besteht nicht zuletzt darin, dass sie sich nicht alles abringen lässt, sondern dass sie auch freizügig gibt; die Senkung des Wahlalter auf 16 Jahre wäre so eine Gabe.