In diesem Jahr feiert die Lyonel-Feininger-Galerie in Quedlinburg nicht allein den 150. Geburtstag ihres Namenspatrons, sondern auch ihr 35-jähriges Bestehen. Aus Anlass dieses Jubiläums ist dort eine außergewöhnliche Ausstellung zu sehen. Erstmals werden mehr als 140 Werke aus drei Sammlungen präsentiert, die noch nie zusammen gezeigt wurden. Die Exponate stammen aus der Sammlung Dr. Hermann Klumpp in der Lyonel-Feininger-Galerie in Quedlinburg, aus der Feininger-Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) sowie aus der Stiftung Lyonel-Feininger-Sammlung Armin Rühl. Die im Verlauf von mehr als sechs Jahrzehnten entstandenen Karikaturen, Graphiken und Gemälde vermitteln einen repräsentativen Einblick in das Schaffen eines der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts, den es mit dieser Ausstellung neu zu entdecken gilt.
Diejenigen, die es bis zum Ende der Ausstellung nicht mehr nach Quedlinburg schaffen, sollten unbedingt einen Blick in den hervorragend aufbereiteten Katalog werfen, der neben den Abbildungen der ausgestellten Exponate vier weiterführende Aufsätze zu den oben genannten Sammlungen und zu den Mitgliedern der Künstlerfamilie Feininger vereint.
Im Zentrum des einleitenden Beitrags von Gloria Köpnick, Direktorin der Lyonel-Feininger-Galerie Quedlinburg, steht die Geschichte der Sammlung Dr. Hermann Klumpp. Klumpp, der im April 1902 in Quedlinburg geboren wurde und zunächst Jura studiert hatte, kam zum Wintersemester 1929/30 ans Dessauer Bauhaus. Nach sechs Semestern konnte er am 15. August 1932 mit der Übergabe der Diplomurkunde auch sein zweites Studium erfolgreich beenden – eine Woche bevor der Dessauer Gemeinderat für die Schließung des Bauhauses stimmte.
Als im März 1933 das Bauhaus-Gebäude durchsucht wurde und SA-Männer schließlich auch in Feiningers Meisterhaus eindrangen, musste gehandelt werden. Klumpp, der Feininger zum ersten Mal am 9. April 1930 begegnet war und in der Folge zum „Hausfreund“ der Familie wurde, bot an, dessen Werke in seinem Quedlinburger Elternhaus zu verstecken. Zwei Jahre später war Klumpps Hilfe ein weiteres Mal gefragt. „1935 liess uns der Fotograf der Moritzburg in Halle (Artur Seeliger) vertraulich wissen, es wäre höchste Zeit, Feiningers zweites Atelier im Turm der Moritzburg zu räumen“, erinnerte sich Hermann Klumpp im Jahre 1982. „Am Montag nach dem 18. Oktober (21.10.) 1935 – das Museum Moritzburg war wie alle Museen geschlossen – öffnete sich um 3 Uhr nachmittags geräuschlos das Tor“ und ein Lieferwagen fuhr hinein. Ein paar Stunden später kehrte er beladen mit zahlreichen Feininger-Gemälden unbehelligt nach Quedlinburg zurück. Und noch ein drittes Mal organisierte Klumpp einen Transport. Als das Ehepaar Feininger am 11. Juni 1937 in die Vereinigten Staaten remigrierte und deren Wohnung in der Berliner Siemensstadt aufgelöst wurde, kam eine weitere Ladung mit Werken von Feininger nach Quedlinburg. Mehr als 60 Gemälde und weit über 1000 Arbeiten auf Papier konnten so vor einer möglichen Vernichtung gerettet werden. Diese Sammlung bildete schließlich den Grundstock für die am 17. Januar 1986 im Beisein ihres Initiators Hermann Klumpp eröffnete Lyonel-Feininger-Galerie Quedlinburg.
Auf eine facettenreiche Geschichte macht Wolfgang Büche in seinem Aufsatz „Lyonel Feininger und die Moritzburg“ aufmerksam. Neben Feininger geht es dabei vor allem um Alois J. Schardt, seit 1926 Direktor des städtischen Kunstmuseums in der Moritzburg. Es ist nicht ganz klar, wann sich die beiden zum ersten Mal begegnet sind, möglicherweise 1917 in Berlin. Schardt, der sich schon bald intensiv mit Feiningers Arbeiten beschäftigen sollte, sah in ihm „nicht nur einen der bedeutendsten Künstler der Gegenwart, er erkannte in ihm auch einen im Geiste Verwandten“. Was könnte einem Künstler, der auf den Verkauf seiner Bilder angewiesen ist, Besseres passieren? Am 29. Juli 1928 wurde in der Sitzung der Museumsdeputation erstmals einem Ankauf von mehreren Werken durch das Kunstmuseum Moritzburg zugestimmt. Im folgenden Jahr erwarb das Museum zehn Aquarelle, zwei Kohlezeichnungen und eine in Tusche ausgeführten Arbeit.
Wiederholt hielt sich Feininger zwischen 1929 und 1931 als eine Art „Artist in Residence“ in Halle auf. Im obersten Geschoss des Torturmes der Moritzburg hatte ihm Schardt ein Atelier zur Verfügung gestellt, das er am 1. Mai 1929 bezog. Er arbeitete dort an einem Auftragswerk: einer Ansicht der Stadt, bestimmt als Stiftung für das Oberpräsidium der preußischen Provinz Sachsen in Magdeburg. Bei seinen Vorstudien nutzte Feininger neben dem Skizzenblock zum ersten Mal die Möglichkeiten der Fotografie, um so das Erlebnis des Sehens zu steigern. Angeregt vom Flair der Stadt und den idealen Arbeitsbedingungen in der Moritzburg beschloss er schon bald, es nicht nur bei einer Stadtansicht bewenden zu lassen, sondern „eine machtvolle Fuge schöner Bilder“ zu schaffen. So entstanden in den Monaten Juni bis September 1929 die insgesamt 29 ausgeführten Zeichnungen der Halle-Serie. Im Anschluss daran begann er mit der Arbeit an den elf dazugehörigen Gemälden. Der Vertrag über den Ankauf der Bilder und Zeichnungen durch die Stadtgemeinde Halle wurde am 20. Juni 1931 unterzeichnet.
Mit den Anfängen von Feiningers künstlerischem Werdegang befasst sich Ulrich Luckhardt. Im Jahr 2021 konnte das Quedlinburger Museum einen bedeutenden Neuzugang verbuchen: die Sammlung Armin Rühl, die mit über 100 Werken das Frühwerk des Künstlers abdeckt. Als Rühl im Dezember 1979 in einem Auktionskatalog eine kleine, von Feininger stammende Zeichnung entdeckte, die von ihrem Motiv her so gar nicht einem „echten“ Feininger entsprach, war seine Sammelleidenschaft geweckt. Die in den Folgejahren zusammengetragenen Werke, so Luckhardt, „korrigier[en] eindrücklich das Feininger-Bild, das nach dem Tod […] von seiner Witwe Julia aufgebaut und vehement verteidigt wurde“. Es geht um die zwischen 1890 und 1915 entstandenen und in verschiedenen deutschen, amerikanischen und französischen Zeitschriften veröffentlichten rund 2000 Karikaturen Feiningers, die von ihr immer als „Fehltritte“ abgetan wurden, da sie – nach überkommenen Vorstellungen – der Gebrauchsgraphik als einer „niederen“ Kunst angehören. Julias Bemühungen um die Nichtbeachtung gipfelten schließlich sogar in der Behauptung: „That is not Feininger“. Feininger selbst schrieb dazu 1924: „Ich bin weit entfernt davon, die sehr wichtigen Entwicklungsjahre die ich als ,Witzblattzeichner‘ durchmachte, gering zu halten – im Gegenteil! Sie waren meine einzige Disciplinierung.“
Den Textteil des Katalogs abschließend nimmt Lina Aßmann die eng mit dem Bauhaus verbundene Familie Feininger als Ganzes in den Blick. Sie zeigt einmal mehr, „dass alle Familienmitglieder […] eigenständige künstlerische Wege gingen und ihren eigenen Stil entfalteten“, sei es in der Musik oder Fotografie, der Malerei oder Illustration, der Kostümbildnerei, in der Architektur, im Design oder im Handwerk. Mit einem Satz gesagt: „Es entstand ein künstlerisches Spannungsfeld voller Querverbindungen, wobei sich die Individualität des Einzelnen im Kontext gemeinsamer geistiger und kreativer Ansichten entwickeln konnte.“
Entdecken wir die Feiningers.
Becoming Feininger – Lyonel Feininger zum 150. Geburtstag / Lyonel Feininger on His 150th Birthday. Herausgegeben von Christian Philipsen in Verbindung mit Gloria Köpnick, Übersetzung der Texte ins Englische von James Copeland und Gérard A. Goodrow, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2021, 240 Seiten, 29,95 Euro.
Die Ausstellung kann noch bis zum 9. Januar 2022 täglich außer dienstags zwischen 10 bis 18 Uhr besucht werden.
Schlagwörter: Lyonel Feininger, Mathias Iven, Quedlinburg