24. Jahrgang | Nummer 24 | 22. November 2021

Bei den Schatzgräbern im Erzgebirge

von Joachim Lange

Heutzutage ist überall an den Theatern und Opernhäusern vom Neustart die Rede. Nach der coronabedingten Zwangspause kein Wunder. Da wo Intendanten wechseln, ist es gleich ein doppelter. So wie im Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg-Buchholz. Gewissermaßen als Kontrapunkt zu dem, was es an Meldungen über das südsächsische Wahl- und Impfprotestverhalten in die überregionalen Medien schafft, kann der neu bestellte Intendant Moritz Gogg dort bereits mit zwei ambitionierten Musiktheaterproduktionen punkten.

Der in Graz geborene erfolgreiche Sänger, der seine Erfahrungen im Musiktheater- Management unter anderem am Brucknerhaus in Linz und dann am Stadttheater in Gießen sammelte und seine Auftakt-Spielzeit unter das Nachdenk-Motto „Werden wir menschlich gewesen sein?“ gestellt hat, landete sowohl mit dem Opern-Lustspiel „Leonce und Lena“ nach Georg Büchner von Erich Zeisl als auch mit der Operettenrarität „Der reichste Mann der Welt“ von Ralph Benatzky einen Volltreffer.

Wenn niemand mehr den Komponisten Zeisl oder die Operette des „Weiße-Rössl“-Komponisten auf dem Schirm hat, dann liegt das, wie so oft in solchen Fällen, an dem Kulturbruch durch die Nazis in den dreißiger Jahren. Und am Unvermögen der Nachgeborenen, das nach dem Krieg wiedergutzumachen. Der 1905 in Wien geborene Zeisl entkam gerade noch der Judenverfolgung 1938 und ging in die USA, wo er 1959 starb. Ralph Benatzky (1884–1957) überlebte physisch erst in der Schweiz und dann in den USA. Künstlerisch überlebte er, bildlich gesprochen, im Balkonzimmer des Weißen Rössl. Dessen Musik hat zum Glück die Heimatverfilmungen der Nachkriegszeit überlebt und erfreut sich bester Wirkungsfrische (wie zum Beispiel in der jüngsten Inszenierung in der Staatsoperette Dresden).

In Annaberg-Buchholz ist jetzt mit „Der reichste Mann der Welt“ zum pfiffigen Text von Hans Müller ein musikalisch-komödiantisches Schmuckstück überhaupt das erste Mal seit seiner Uraufführung 1936 wieder aufgeführt worden! Bei dieser Musik kaum zu glauben, aber wahr. Vielleicht ändert sich das ja jetzt, wenn der eine oder andere Operndirektor den Weg ins schmucke erzgebirgische Theater findet. Für die letzte Vorstellung haben sich bereits Benatzkys Erben angesagt!

Dass es Moritz Gogg und dem ebenfalls neu angetretenen GMD der Erzgebirgischen Philharmonie Jens Georg Bachmann mit ihrer Melange aus österreichischem Charme, Weltläufigkeit, Erfahrung und Theaterleidenschaft gelingen kann, ihre „Erzgebirgische*Dramaturgie“ mit illustren Erstaufführungen und Raritäten überregional leuchten zu lassen, das glaubt man ihnen ebenso gerne, wie die Zuwendung zum regionalen Publikum. Dank ihrer persönlichen Beziehungen wird – so viel wird ausnahmsweise schon von der nächsten Spielzeit verraten – auch die vom Spitzentenor Daniel Behle geschriebene Oper „Hopfen und Malz“ im Januar 2023 in Annaberg herauskommen.

Es mag an der Euphorie des Neubeginns oder am Blick von außen liegen – von der Treue des Publikums ist Gogg ebenso begeistert wie vom Teamgeist im Haus, bei dem sich die Mitarbeiter aller Bereiche den aktuellen Herausforderungen (in Absprache mit den Betriebsräten) unter anderem mit arbeitstäglichen Selbsttests nach dem Vieraugenprinzip) stellen.

Was die Abstandsreglungen für die Musiker im Graben betrifft, da kommt die 13köpfige Originalbesetzung von Benatzky natürlich den gegenwärtigen Bedingungen auf halbem Weg entgegen. Hier muss also nichts ausgedünnt werden. Die Chorpassagen sind beim in die Inszenierung integrierten Herren-Quartett bestens aufgehoben.

Regisseur und Ausstatter Christian von Götz nimmt sich der Vorlage so mit professionellem (Un-)Ernst an, dass das Ensemble zu einer komödiantischen und musikalischen Hochform aufläuft, die das Publikum begeistert.

Ganz und gar operettentauglich steuern in der Geschichte die verarmte ungarische Adelsfamilie von Györmrey und die neureichen Wiener Parvenü-Finanziers Reingruber aufeinander zu. Die Ungarn wollen Tochter Ilka mit dem Wiener Millionenerben Schorsch verheiraten. Die will sich aber nicht verloben lassen, und er viel lieber zur Bühne. Sie verlieben sich natürlich doch … Die bewährte Operetten-Schussfahrt ins Glück mit den üblichen Hindernissen halt.

Wenn sich gerade alles in Wohlgefallen auflösen will, klopft die Zeit der Uraufführung plötzlich bedrohlich laut an die Tür. Hier bremst sich die Inszenierung für einen Moment aus. Die Wiener, die daheim immer wieder mal ins Jiddisch verfallen, und alle anderen kommen plötzlich mit einem Koffer aus dem Drehbühnenzylinder aus lauter Türen und heften sich einen gelben Stern an die Brust. Ilka tritt aus der Rolle und verweist darauf, dass viele der jüdischen Künstler die 1930iger Jahre nicht überlebt haben. Das ist eindrucksvoll, wobei die Geräusche eines Zuges und aufsteigender Dampf gar nicht nötig gewesen wären, um die Botschaft klar zu machen. Dann wird aber trotzdem das Happyend als Utopie durchgespielt. Plötzlich bewegen sich alle wie im Zeitraffer rückwärts in die Bühnenhandlung zurück. Am Ende ruft sogar der Finanzminister an, um sich Rat beim nunmehr an die Spitze der Firma aufgestiegenen Schorsch einzuholen. …

Musikalisch jagt eine schlagertaugliche Melodie die nächste, gehen Wiener Walzer und Csárdás eine Liaison ein. Die temporeiche Stilisierung der Inszenierung erinnert an Herbert Fritsch oder auch Robert Wilson. Das Ensemble ist eine Klasse für sich, wobei die beiden jungen Leute herausragen. Madelaine Vogt hat das Quantum Paprika-Temperament was Operette den Ungarn zubilligt und Richard Glöckner schafft es tatsächlich, sich mit seiner Kunstfigur Schorsch als ein personifiziertes Gesamtkunstwerk in die Herzen der Zuschauer zu singen und zu spielen. Ein kurzweilig hinreißender Abend, an dem das ganze Ensemble seinen Anteil hat, und der eine Reise ins Erzgebirge lohnt.

Nächste Vorstellungen: 19.11.2021, 28.11.2021, 05.12.2021, 19.12.2021, (16.00 Uhr), 30.12.2021, 05.03.2022, 19.03.2022, 18.04.2022 (jeweils 19.30 Uhr).