24. Jahrgang | Nummer 22 | 25. Oktober 2021

Willi Sitte in Halle – eine Retrospektive zum Hundertsten

von Joachim Lange

Wahrscheinlich brauchte man wohl die dreißig Jahre Abstand zum Ende der DDR und einen runden Geburtstag, um einen Maler wie Willi Sitte zu würdigen. Der deutsch-deutsche Bilderstreit tobt nicht mehr so unerbittlich wie um die Weimarer Skandalausstellung „Aufstieg und Fall der Moderne“ zur Jahrtausendwende. Auch die Absage der eigentlich geplanten Willi Sitte Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg ist Geschichte. Der einhundertste Geburtstag des 2013 verstorbenen Wahl-Hallensers ist ein guter Grund für eine Ausstellung. Zumal für den oft abschätzig als Staatsmaler titulierten Sitte das Ende der DDR nicht nur eine Entwertung der Lebensleistung bedeutete, sondern auch einen ziemlichen gesellschaftlichen Absturz.

Die ambitionierte Retrospektive im Kunstmuseum Moritzburg versucht jetzt einen differenzierten Blick sowohl auf Sittes Kunst als auch auf seine Biografie. Deshalb haben Museumsdirektor Thomas Bauer-Friedrich und sein Mitkurator Paul Kaiser neben dem gewichtigen Ausstellungs-Katalog zusätzlich eine umfangreiche biographische Recherche unter dem Titel „Willi Sitte – Künstler und Funktionär“ herausgegeben. Zugleich eine hoch spannende Kulturgeschichte der DDR am Beispiel eines zunächst als moderner, das heißt zu westlich angehauchter Künstler bekämpften, dann etablierten und zum mächtigen Funktionär aufgestiegenen Mannes, der immer mit Pro und Contra leben musste.

Dazu passend präsentiert der Kunstverein Talstraße (auch ein Muss für kunstaffine Halle-Besucher) die Ausstellung „Grenzerfahrungen. Hommage zum 100.“. Wobei hier Sitte nur einer der Hundertjährigen ist. Seine handverlesenen früheren – zum Teil abstrakten – Arbeiten finden sich in der Gesellschaft exquisit ausgewählter Werke von Hermann Bachmann, Mareile Kitzel, Gerhard Lichtenfeld, Werner Rataiczyk und Hannes H. Wagner.

Ein kleiner Schatten fällt auf diese geglückten Ausstellungsgroßtaten, musste doch gerade jetzt die Willi-Sitte-Galerie in Merseburg als Ort für die Willi-Sitte-Stiftung mit der Präsentation seines Nachlasses aufgeben. Das gehört in Sachsen-Anhalt leider zur Wahrheit eines staatlichen und kommunalen Versagens bei der Pflege eines streitbaren Erbes.

Die große Retrospektive unter dem lapidaren Titel „Sittes Welt“ öffnete am Tag der Deutschen Einheit (der in Halle begangen wurde) ihre Pforten. Was hier auf 1500 Quadratmetern Ausstellungsfläche geboten wird, dürfte manches Urteil über Sittes Malerei bestätigen, manches aber auch relativieren. Jahrelang akribisch vorbereitet, mit vielen Werken aus dem Nachlass der Familie und den eigenen Beständen sowie mit Leihgaben bestückt, zeigt diese Ausstellung den ganzen Sitte (eben seine Welt). Anhand der über 250 Exponate – von der leisen Skizze bis zu den lautstarken Großformaten – lassen sich die Phasen seiner künstlerischen Entwicklung, samt der Widersprüche und Brüche, anschaulich nachvollziehen.

Gezeigt werden auch Arbeiten aus den Jahren, in denen er sich das Malen vor allem selbst beibrachte. Das Intermezzo des im tschechischen Kratzau 1921 geborenen Sohnes tschechischer Bauern mit kommunistischer Gesinnung an der Malschule Hermann Göring endete 1944 wegen Aufmüpfigkeit mit einer Einberufung an die Front. In Italien schließlich läuft er kurz vor Kriegsende zu den Partisanen über – wie lange genau vor Kriegsende gehört zu den Punkten in Lebenslauf und Autobiografie, die Moritzburgchef Thomas Bauer-Friedrich und Paul Kaiser akribisch überprüft und korrigiert haben. Sitte sicherte sich mit seiner Version jedenfalls das Quasi-Adelsdiplom der DDR als Antifaschist (samt entsprechender Zusatzrente). Genau nachzulesen im Kapitel 3 der Recherche („Partisan Sitte? Mythos und Wirklichkeit“).

Immerhin hatte er sei erstes Atelier unterm Dach mit Blick auf den Mailänder Dom. Er folgte dann seinen ins Eichsfeld umgesiedelten Eltern und kam 1947, schon im Auftrag der Partei, nach Halle.

Ein viele Besucher sicher überraschendes Kapitel der Ausstellung belegt anschaulich, wie Sitte bis in die 60er Jahre zwischen (eigener künstlerischer) Neigung und (durchaus akzeptiertem politischem) Auftrag schwankt. Eine Zerrissenheit, die existenzielle Krisen bis hin zu Selbstmordversuchen und öffentliche „Selbstkritik“ einschließt. In den 70er Jahren, als er bei sich und seiner expressiv körperbetonten, mitunter barocken Figürlichkeit angekommen ist, steigt er bis zum Verbandspräsidenten und ins Zentralkomitee der SED auf. Ob nun immer zu Recht oder nicht, gilt er im Lande fortan als der mächtige Staatsmaler, bestimmt (auch ohne ihr Rektor zu sein) bis1986 das, was an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein (und darüber hinaus) geschieht, mit.

In der im Wesentlichen chronologisch geordneten Schau würden allein schon die Werke lohnen, die die Suche des Kriegsheimkehrers nach einem eigenen Stil belegen und bei der die begierig aufgesogenen Einflüsse der westeuropäischen Moderne unübersehbar sind!

Die Ausstellung weitet den Blick vom wohl durchdacht inszenierten Parcours der Bilder immer wieder zur Biografie dieses Künstlers und zu deren besonderer Verflechtung mit der deutschen Geschichte. Dass die Exposition ausgerechnet am Tag der Einheitsfeier in Halle eröffnete, war fürs Ausstellungs-Marketing ein Traum.

Sitte selbst hat mit dieser Einheit gehadert. Der bekennende Sozialist blieb Zeit seines Lebens bei seiner Parteinahme für einen Staat und eine Idee, die es ihm in den ersten Nachkriegsjahren nicht leicht gemacht haben. Mit ihrem aus heutiger Sicht kaum noch nachvollziehbaren Kampf gegen den „Formalismus” (also die Rezeption der Moderne) wurden viele seiner einstigen Malerfreunde und -kollegen aus dem Land vertrieben; siehe die Ausstellung in der Talstraße. Sitte blieb und ließ sich als Künstler und dann auch als Kulturfunktionär von der Staatspartei in die Pflicht nehmen. Eine differenzierte Reflektion der sogenannten Wende und des Endes der deutschen Zweistaatlichkeit war seine Sache nicht. Weder als Zeitgenosse, noch als Maler.

Mit den Groß-Formaten in der separaten White Box des Obergeschosses der Moritzburg lassen die Kuratoren als Finale der Ausstellung noch einmal die Anpassung an gewünschte Sujets, die plakative Parteinahme, aber auch seine Enttäuschung über die „Wende“ und jene Arbeiterklasse, in deren Dienst sich Sitte wähnte, für sich selbst sprechen.

„Sittes Welt. Willi Sitte: Die Retrospektive“, Kunstmuseum Moritzburg, Halle (Saale); noch bis 09.01.2022; weitere Informationen im Internet.

„Grenzerfahrungen. Hommage zum 100.“, Kunsthalle „Talstraße“, Halle (Saale), noch bis 27.02.2022; weitere Informationen im Internet.

Christian Philippen (Hrsg. in Verbindung mit Thomas Bauer-Friedrich und Paul Kaiser): Sittes Welt. Willi Sitte: Die Retrospektive, E.A. Seemann, Leipzig 2021, 536 Seiten, 45,00 Euro .

Thomas Bauer-Friedrich / Paul Kaiser: Willi Sitte. Maler und Funktionär. Eine biografische Recherche, Dresden/Halle (Saale) 2021, 255 Seiten, 36,00 Euro; 27,00 Euro im Museumsladen.

Matthias Rataiczyk (Hrsg.): Grenzerfahrungen. Hommage zum 100., Kunstverein „Talstraße“, Halle (Saale) 2021, 175 Seiten, 29,90 Euro.