24. Jahrgang | Nummer 21 | 11. Oktober 2021

Krieg und eine Kassettensammlung

von Arndt Peltner, Oakland

Kriege zerstören und gefährden Kultur. Nicht nur die historischen Gebäude und Einrichtungen, Archive und Sehenswürdigkeiten. Sondern auch all das, was eine alltägliche Kulturlandschaft ausmacht, die uns in unserem normalen Leben gar nicht bewusst ist. Genau das haben Menschen in Syrien erlebt, wo seit zehn Jahren Bürgerkrieg herrscht. Mark Gergis ist vorzustellen, der aus einer umfangreichen Kassettensammlung ein Archiv der syrischen Tape Musik aufbauen will.

Mark Gergis ist Amerikaner mit irakischem Hintergrund, sein Vater stammt aus dem Irak. Gergis lebte lange Jahre in Oakland, arbeitete als Musiker und Produzent und ging irgendwann auf die Suche nach seinen irakischen Wurzeln. Vor allem die Musik aus dieser Region hatte es ihm angetan. Er durchstöberte die Shops der irakischen, syrischen und libanesischen Diaspora in den verschiedenen US-Städten, um entsprechende Musikkassetten zu finden. Teils Importe, teils in den USA produzierte Tapes. Und dann merkte er Ende der 1990er Jahre, dass ihm das nicht mehr reichte. „Ich war mir sicher, da gibt es mehr zu finden und da ich nicht in den Irak reisen konnte wegen der damaligen Umstände, meines irakischen Hintergrunds und der Sanktionen gegen die Regierung, reiste ich eben nach Syrien“, erzählt Gergis, der heute in London lebt.

Das war 1997. Aufgrund der internationalen Isolation des Iraks unter Saddam Hussein lebten damals viele Iraker in Syrien, gerade im Nordosten des Landes und brachten sich ein, wirtschaftlich wie auch kulturell. Mark Gergis war fasziniert vom „Melting Pot“ Syrien, mit all den verschiedenen Einflüssen aus der Region.

In Damaskus, berichtet er, gab es Kassettenkiosks, in denen man kistenweise Musik durchforsten konnte. „Und diese Kioske lagen alle dicht beieinander und spielten die Musik bei voller Lautstärke, um die anderen zu übertönen.“ Er suchte das Gespräch mit den Verkäufern, wollte dies und das hören, mehr erfahren, Empfehlungen bekommen. Das hatte oftmals zur Folge, dass Mark Gergis zu ihnen nach Hause und zu Hochzeiten eingeladen wurde, um mehr über die Musik und die Musiker zu erfahren.

Gergis begann Kassetten zu kaufen. Darauf Musik ganz verschiedener Genres. Auf jeder Reise waren es Dutzende, am Ende, als er nicht mehr nach Syrien einreisen konnte, hatte er mehr als 400 Kassetten angesammelt. Darauf kurdische, armenische, arabische und selbst assyro-chaldäische Musik aus Syrien, die die ganze Vielfalt der Region erklingen ließ. Und immer hatte er seinen Rekorder dabei und nahm auch das auf, was er auf den Straßen und im syrischen Radio hörte. Daraus entstand seine erste Veröffentlichung „I remember Syria“, eine Doppel-CD, die 2003 auf „Sublime Frequencies“, einem Weltmusik-Label in Seattle herausgebracht wurde.

Und dann kam der Krieg, der alles in Syrien veränderte. Mark Gergis realisierte schnell, dass er im Angesicht all der Zerstörung und der Flucht von Millionen von Syrern mit seinen Musikkassetten auf einmal einen kulturellen Schatz vor sich liegen hatte. Etliche seiner Freunde waren nun Flüchtlinge in Europa. Gergis wollte etwas zurückgeben und begann mit seinem Projekt „Syrian Cassette Archives“, in dem es ihm nicht nur darum geht, die Musik auf den Tapes zu digitalisieren, zu bewahren und bekannter zu machen. Er bezog auch viele der Produzenten und Musiker ein, die er finden konnte, um ein umfangreiches Bild der syrischen Musikszene jener Jahre entstehen zu lassen. Und dabei stieß er auf offene Ohren und viel Unterstützung. Und er wurde mit der Frage konfrontiert, warum es nicht einfach nur eine Sammlung ist, warum es ein Archiv sein muss? „Die tragische oder romantische Antwort darauf ist, dass ich die Zerstörung Syriens und seiner Gesellschaft mitansehen musste. Das war der Moment, an dem die Sammlung sich für mich in ein Archiv wandelte. Denn es gab diese Dringlichkeit all das zu bewahren und von den Leuten zu lernen, die dabei waren und ihre Geschichten zu hören“, beschreibt er diese Wandlung.

Musikkassetten als Zeitdokumente, die Webseite als ein Musik- und Geschichtsarchiv. Seine Sammlung sei dabei nur als das Fundament für ein hoffentlich langfristiges Projekt zur Bewahrung der syrischen Musik zu sehen, meint Mark Gergis. Und er sucht weiter nach Aufnahmen aus den wilden und „happy times“ in Syrien, als jeder und jede ganz einfach mit einem Kassettenrekorder seine eigenen Lieder aufnehmen konnte. Musik, so sagt er, sei für viele Menschen genau wie das Essen der Zugang zu einer anderen Kultur. Und er hofft, durch seine Kassetten, den Zugang zur syrischen Kultur für andere geschaffen zu haben.